Gastkommentar: Fairness darf kein Wettbewerbsnachteil sein
Was meinen Sie: Wenn ein europäischer Modekonzern eine Jeans für zehn Euro in Indien produzieren lässt und in Hamburg oder Rom für 100 Euro verkauft, sollte er sich darum kümmern, dass sie nicht von Kindern genäht wurde? Und dass die Abwässer kein Trinkwasser verseuchen?
Viele Unternehmen und Menschen sind der Meinung: Ja, das sollte er. Damit dies für alle Unternehmen gilt, wurde in Brüssel intensiv an einer Richtlinie gearbeitet. Sie soll die Sorgfaltspflichten von Unternehmen in globalen Lieferketten einheitlich regeln. Ziel ist nicht, Europas Sozialstandards der Welt überzustülpen, sondern grundlegende Menschenrechtsstandards endlich umzusetzen.
Rund 80 Millionen Kinder arbeiten unter ausbeuterischen Bedingungen – auch für Europa
Für Millionen Beschäftigte in der Welt wäre die Richtlinie daher sehr relevant. Scheitert sie aufgrund von Last-Minute-Bedenken aus Deutschland und Italien nun endgültig, wäre dies ein katastrophales Signal an den globalen Süden: Grundlegende Standards wie das Verbot von Kinderarbeit oder die Verschmutzung von Trinkwasser können von international tätigen europäischen Unternehmen weiterhin unterlaufen werden. Nach dem Motto: Aus den Augen aus dem Sinn. Alles läuft wie bisher.
Dabei besteht dringend Grund zum Handeln: 25 Millionen Menschen müssen in Zwangsarbeit schuften. Rund 80 Millionen Kinder arbeiten unter ausbeuterischen Bedingungen – auch für Produkte in Europa. Kinderarbeit ist keine historische Episode, sondern endemisch in vielen Lieferketten. Millionen Kinder arbeiten in Minen. Vor allem in Afrika arbeiten Millionen Kinder auf Kosten ihrer Kindheit, ihrer Bildung, ihrer Zukunft. Jedes Jahr sterben über 20.000 Kinder bei der Arbeit.
So kann Globalisierung auf Dauer nicht erfolgreich sein. „Immer billiger“ ist der falsche Weg! Die Menschen brauchen Löhne, von denen sie leben können, um Kinderarbeit zu beenden. Die europäische Richtline würde zudem dafür sorgen, dass Mindeststandards bei Arbeits- und Umweltschutz auf globalen Märkten durchgesetzt würden. Einheitliche Berichtspflichten würden gleiche Wettbewerbsbedingungen in ganz Europa schaffen und verhindern, dass Vorreiter benachteiligt werden. Aus diesem Grund unterstützen Unternehmen wie Aldi, Bayer, Vaude und Tchibo ein EU-Gesetz.
Die Umsetzung von Mindeststandards führt zu mehr Qualität und weniger Produktionsausfällen
Made in Europe stand immer für hohe Qualität und sollte auch für hohe Zuverlässigkeit bei Sozial- und Umweltfragen stehen. Wichtig ist, dass die Europäische Union (EU), die Vereinten Nationen (UN) und Unternehmen die Zulieferer im globalen Süden auch dabei unterstützen, neue Regeln anzuwenden.
Kritiker wenden ein, die Richtlinie verursache viel Bürokratie, die den Menschen nicht helfe. Unternehmen würden Marktanteile an die außereuropäische Konkurrenz verlieren. Wer das sagt, war selten vor Ort. Natürlich hilft es den Arbeitern und Bauern, wenn künftig Hungerlöhne, Kinder- und Zwangsarbeit ausgeschlossen werden.
Das ist nicht nur eine moralische Frage, sondern lohnt sich auch für die Wirtschaft. Die Umsetzung von Mindeststandards, etwa mit modernen Technologien, führt zu besserer Qualität, weniger Unfällen und kostspieligen Produktionsausfällen. Zum Beispiel in der Minenwirtschaft: Der Bedarf an Mineralien für die Energiewende und Elektronik wird um bis zu 500 Prozent bis 2050 steigen. Tragödien wie kürzlich beim Einsturz einer Mine in Venezuela oder gesundheitsgefährdende Umweltverschmutzung wie in Marokko in der Mine eines Zulieferers für BMW können durch eine einheitliche Regulierung vermieden werden. Eine Win-win-win-Situation für Menschen, Natur und Unternehmen.
Unternehmen haften nach der geplanten EU-Richtlinie auch nicht für jeden einzelnen Missstand in ihren Lieferketten. Sie sind vielmehr verantwortlich, einen guten Plan zu entwickeln, um Risiken zu erkennen und vorzubeugen und die Sorgfaltspflichten systematisch in ihre Managementprozesse zu integrieren. Ein solches professionelles Lieferkettenmanagement sollte in Zeiten der Digitalisierung eigentlich Standard sein und die gleiche Aufmerksamkeit erhalten wie das Qualitätsmanagement. Zudem schafft die EU-Richtlinie Wettbewerbsgleichheit, da sie auch große ausländische Unternehmen betrifft, die auf den EU-Binnenmarkt importieren wollen.
Aber klar ist auch: Der nächste logische Schritt muss ein globales Regelwerk sein, das Unternehmen aus den USA und China dauerhaft mit einbezieht.
Die EU als einer der wohlhabendsten Wirtschaftsräume der Welt sollte jetzt vorangehen und zeigen, dass wirtschaftlicher Erfolg nicht auf Ausbeutung von Mensch und Natur gründet. Das ist möglich, und dafür kämpfen wir weiter!
Die Autoren: Gerd Müller war Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und ist heute Generaldirektor der Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung (UNIDO). Kailash Satyarthi ist Kinderrechts- und Bildungsaktivist und Friedensnobelpreisträger (2014).