Gastkommentar-Serie: Zukunft Wasserstoff: „Wasserstoff ist im Wärmemarkt unverzichtbar“ – Ein Plädoyer für die Transformation

Die Autorin ist Geschäftsführerin der Stadtentwässerung Dresden GmbH, Prokuristin der Gelsenwasser AG und Mitglied des Nationalen Wasserstoffrats.
Mehr als die Hälfte des deutschen Verbrauchs von Endenergie – also der Energie, die beim Verbraucher etwa in Form von Brennstoffen, Kraftstoffen oder elektrischer Energie ankommt – entfällt auf den Wärmemarkt. Mit hohen saisonalen Schwankungen konzentriert sich dieser Bedarf in den Wohn- und Gewerberäumen in besonderer Weise auf den Winter.
Doch auch die Grundstoff-, Papier- oder Nahrungsmittelwirtschaft braucht viel Wärme für ihre Prozesse, und zwar zuverlässig, in unterschiedlichen Hitzegraden und exakten Dosen. Diese vielfältigen Anforderungen machen den Wärmemarkt zu einer Art Achillesferse der Energiewende.
Seit 1990 gelang im Wärmesektor eine Reduktion von rund 90 Millionen Tonnen CO2. Zur Erreichung des Sektorziels 2030 muss sich das Minderungstempo in den verbleibenden acht Jahren mehr als verdoppeln.
Statt zu sinken, steigen derzeit in Deutschland die CO2-Emissionen. Weil Zeit im Kampf gegen den Klimawandel das knappste Gut ist, müssen wir kurzfristig runter mit den Emissionen. Bis 2045 gilt: klimaneutral werden.
Beide Ziele im Wärmesektor zu erreichen geht nur mit allen derzeit verfügbaren Technologien. Vieles spricht deshalb für einen Mix aus Elektrifizierung, Einsatz von Biomasse und der Nutzung von klimafreundlichem und später klimaneutralem Wasserstoff.
In bereits auf Energieeinsparung ausgelegten Neubauten sind Wärmepumpen in puncto Effizienz kaum zu toppen und deshalb zunehmend das Mittel der Wahl. Doch über 90 Prozent der Gebäude gehören zum Bestand, 87 Prozent davon sind teil- oder unsaniert.
Fossiles Gas ist eine Übergangslösung
Hier dominiert der Energieträger Erdgas, der über die Gasverteilnetze 31 Millionen Menschen und 1,8 Millionen Industrie- und Gewerbeunternehmen versorgt. Weitere drei Millionen Haushalte werden über die Fernwärme indirekt mit Erdgas geheizt. Die Transformation in Richtung Klimaneutralität für einen relevanten Teil der Bestandsgebäude kann nur bedeuten, fossiles Gas als Übergangstechnologie so schnell wie möglich durch zunächst klimafreundlichen und dann klimaneutralen Wasserstoff zu ersetzen. Anders lassen sich weder die Klimaschutzziele erreichen noch die nötigen Investitionen stemmen.
Wärmepumpen werden unstrittig eine sehr wichtige Rolle im Wärmesektor übernehmen. Kurzfristig bis 2030 fehlt uns dafür aber noch der klimaneutrale Strom, und auch langfristig gestaltet sich der Hochlauf nicht problemfrei.
Es braucht einen weiteren Ausbau des Stromnetzes auf allen Spannungsstufen sowie einen Anstieg der Gebäudesanierungsrate von derzeit weniger als einem Prozent auf mehr als zwei Prozent pro Jahr. Als Flaschenhals bei der Erreichung dieser Ziele dürfte sich der Fachkräftemangel erweisen. Ein Rückgang der Zahl der Nachwuchskräfte für das Bau- und Baunebengewerbe um 40 Prozent ist symptomatisch für zahlreiche Handwerksberufe.
Die Maßnahmen müssen sozialverträglich sein
Eine weitere Herausforderung im Wärmemarkt ist die Sozialverträglichkeit aller Maßnahmen. Schon jetzt ist der Wohnungsmarkt mehr als angespannt. In allen Städten unseres Landes lag der Anstieg der Mietkosten in der letzten Dekade über der Inflationsrate.
Hinzu kommen aktuell die Preissprünge am Energiemarkt. Die von der Bundesregierung in Aussicht gestellten Ausgleichszahlungen mögen einzelnen Familien helfen. Das Grundproblem, dass Mieten und Mietnebenkosten einen immer größer werdenden Teil vom Haushaltseinkommen ausmachen, können sie nicht lösen.
Von welchen Schultern sollen die anstehenden Investitionen getragen werden? Für eine exakte Antwort auf diese Frage ist es noch zu früh. Zwei Punkte scheinen aber jetzt schon klar:
Eine „One-size-fits-all“-Lösung im Wärmesektor gibt es nicht für die lokal sehr unterschiedlichen Bedingungen in Deutschland. Und: Der Wärmemarkt braucht mehr als eine Dekarbonisierungsoption.
Der Nationale Wasserstoffrat arbeitet deshalb gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik (IEE) und dem Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) sowie verschiedenen Fachverbänden an einer sogenannten Bottom-up-Studie. Unter verschiedenen Kriterien, von Versorgungssicherheit bis hin zu Bezahlbarkeit, werden auf Basis realer Daten typischer Wärmeversorgungsstrukturen, sogenannte Wärme-Avatare, unterschiedliche Dekarbonisierungsoptionen bewertet. Noch vor der Sommerpause will der Rat eine politische Handlungsempfehlung hierzu abgeben.
Ein liquider Wasserstoffmarkt muss geschaffen werden
Auch für den Wärmemarkt gilt dabei zuerst: Wir brauchen den raschen Hochlauf Erneuerbarer so viel, so schnell und so kostengünstig wie möglich.
Zum Zweiten müssen wir im Interesse des Klimaschutzes wie im Interesse unserer technologischen und wirtschaftlichen Chancen alles dafür tun, die Etablierung eines liquiden Wasserstoffmarkts zu bewerkstelligen.
Wer möglichst viele der neuen Technologien von den Elektrolyseuren über Komponenten bis zur Brennstoffzelle produzieren und exportieren will, muss diese auch selbst einsetzen. Darüber hinaus ist es kein Geheimnis, dass wir 70 bis 80 Prozent des klimaneutralen Wasserstoffbedarfs aus dem europäischen und globalen Markt importieren werden. Energieimport ist für unser Land keine neue Situation und für die neuen und alten Exportpartner eine Chance, mit Nachhaltigkeit schwarze Zahlen zu schreiben.
Doch der Aufbau verlässlicher Partnerschaften und die notwendigen Investitionen brauchen Zeit. Deshalb werden wir nicht umhinkommen, übergangsweise unter Einsatz von CCS und CCU-Technologien (Absonderung und Speicherung beziehungsweise Verwendung von CO2) auch „blauen“ und „türkisen Wasserstoff“ zu verwenden.
All das setzt zum Dritten gesetzliche Rahmenbedingungen voraus. Die Schaffung der Grundlagen für die sogenannte Farbenlehre des Wasserstoffs ist nicht in Sicht.
Europäisches Denken ist geboten
Der für Anfang Februar vorgesehene Beschluss zur Taxonomie, der Einstufung nachhaltiger Energieträger, stellt Anforderungen an neue Gaskraftwerke, die kaum erfüllbar sind. Darüber hinaus stehen mit dem Gasmarktpaket der EU-Kommission unnötige und sehr aufwendige Formen der Entflechtung in Rede.
Dies dürfte sowohl Investitionen in Netze und Kraftwerke als auch generell den Hochlauf von Wasserstoff behindern. Stärker als jemals zuvor müssen wir deshalb auch im Wärmesektor europäisch denken und handeln, wenn wir dem Klima nützen wollen.
Dies gilt für den Hochlauf der Erneuerbaren wie für den Hochlauf von Wasserstoff. Dies gilt für den länderübergreifenden Infrastrukturaufbau der Wasserstoffnetze, der Speicher und für eine „fördernde Regulierung“.
Und dies gilt, gerade in angespannter werdenden Zeiten, auch für eine wirksame europäische Wasserstoffdiplomatie.


Die Autorin ist Geschäftsführerin der Stadtentwässerung Dresden GmbH, Prokuristin der Gelsenwasser AG und Mitglied des Nationalen Wasserstoffrats.
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