Gastkommentar Unternehmen sollten mit der Belegschaft ihren Daseinszweck definieren

Jens Baas ist Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse.
Unser Wertesystem ist im Wandel. Das Gemeinwohl fördern, nachhaltig wirtschaften, die Welt jeden Tag ein bisschen besser machen – Unternehmen sind heute nicht mehr nur davon getrieben, Profit und Shareholder-Value zu generieren. Längst geht es um mehr als nur ein korrektes kaufmännisches Handeln: Unternehmen definieren sich zunehmend über ihren positiven Einfluss auf Mensch und Umwelt.
Ein wenig Wohltätigkeit steht jedem Unternehmen gut, das ist grundsätzlich nichts Neues. Unter dem Begriff der Corporate Social Responsibility (CSR) fassen Unternehmen schon seit Jahren ihr Engagement zusammen.
Doch reicht es inzwischen nicht mehr aus, Kunden und Stakeholdern die Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung zu demonstrieren – Mitarbeitende eines Unternehmens fordern zusätzlich eine Antwort auf die Frage nach der Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit.
„Purpose“ ist das Stichwort. Aus meiner Sicht steckt viel mehr hinter diesem Begriff als nur ein Managementtrend. Anders als bei der CSR richten sich beim Purpose – den man mit dem Sinn oder dem Daseinszweck eines Unternehmens übersetzen kann – die Botschaften des guten Handelns weniger nach außen: Sie sollen ins Unternehmen hinein Wirkung erzielen.
Es geht darum, welchen Sinn die Belegschaft – völlig unabhängig von der Hierarchieebene – darin sieht, ihre Arbeitskraft in den Dienst des Unternehmens zu stellen. Es geht darum, was den Kern des Unternehmens ausmacht, es geht um ein gemeinsames Wertegerüst, ums Mitmachenwollen, um das gute Gefühl, zu wissen, wofür man das tut, was man täglich tut.
Umsatzrekorde und glückliche Aktionäre sind heute eben keine ausreichenden Unternehmensziele mehr, sie sind die Ergebnisse guten Handelns. Die Sinnsuche startet mit der Frage nach dem „Warum?“. Wie entsteht ein Corporate Purpose? Die Suche nach den Antworten auf die Frage nach dem Sinn der Arbeit sollte zwar von der Führungsebene angestoßen und moderiert werden.
Um diesen Geist der Gemeinsamkeit im Unternehmen greifen zu können, um die richtigen Antworten auch auf neue Fragestellungen der jüngeren Generationen zu finden, muss der Entstehungsprozess aber unter Einbeziehung aller Unternehmensangehörigen stattfinden. Die entscheidende Frage in diesem Prozess ist die nach dem „Warum?“.
Der US-amerikanische Unternehmensberater Simon Sinek hat vor gut zehn Jahren das Prinzip des „Why? How? What?“ entwickelt und damit eine Basis für die erfolgreiche Purpose-Entwicklung geschaffen, die nun auch in deutschen Unternehmen ankommt.
Das Gefühl, gemeinsam an einer großen Sache mitzuwirken
Der Entwicklungsprozess startet nach Sinek stets mit dem „Warum?“: Warum gibt es unser Unternehmen? Warum braucht uns die Welt? Warum machen wir unseren Job mit Überzeugung? Die Fragen nach dem Wie – „Wie überzeugen wir am Markt?“ – und dem Was – „Was macht mein Unternehmen?“ – sind danach meist wesentlich leichter zu beantworten. Das Warum bildet die DNA eines Unternehmens ab.
Wir bei der Techniker Krankenkasse etwa sehen unseren Daseinszweck darin, Menschen zu helfen, gesund zu bleiben, und sie im Krankheitsfall bestmöglich zu versorgen. Wir glauben, dass Gesundheit das Wichtigste ist. Darum tüfteln wir an immer besseren Versorgungsmöglichkeiten, verschieben bestehende Grenzen und wollen so das Gesundheitssystem der Zukunft gestalten. Das schafft ein starkes Zugehörigkeitsgefühl.
In Deutschland gilt Adidas als Purpose-Pionier. Der Unternehmenssinn des Sportartikel-Giganten, durch Sport Leben zu verändern („Through sport, we have the power to change lives“), wirkt dort als Botschaft nach innen, aber wird ebenso nach außen kommuniziert.
Gleiches gilt für die Werner & Mertz GmbH, besser bekannt unter dem Markennamen Frosch. Das Unternehmen zeigt Nachhaltigkeit nicht nur als Markenversprechen, es lebt sie auch im Arbeitsalltag und wurde dafür jüngst mit dem Deutschen Umweltpreis ausgezeichnet.
Der Corporate Purpose kann Mission Statement und Vision des Unternehmens ergänzen. Schließlich geht es darum, den Mitarbeitenden zu zeigen, dass sie an einer großen Sache mitwirken. Derart altruistische Ansätze schaffen im besten Fall eine hohe Anziehungskraft – für Mitarbeitende, aber auch für Kunden und Partner. Sie schärfen das Unternehmensprofil und sorgen für die nötige Abgrenzung im Wettbewerb.
Abgrenzung zu schaffen, das ist ein Purpose-Mehrwert, den vor allem US-Konzerne für sich entdeckt haben: Google will nicht der größte Suchmaschinenbetreiber der Welt sein, sondern „organisiert die Daten der Welt“. Amazon möchte nicht als größter E-Commerce-Anbieter wahrgenommen werden, sondern hat sich die „höchste Kundenzufriedenheit“ als Ziel gesetzt.
Und Tesla will nicht weltweit führender Anbieter von E-Mobilität sein, sondern „den Übergang zu nachhaltiger Energie beschleunigen“. Wir arbeiten bei der Techniker Krankenkasse an der Schärfung unseres Purposes. Denn dies ist umso wichtiger in einem Unternehmen, dessen ausschließliches und somit wichtigstes Kapital seine Mitarbeitenden sind, auf denen aller Erfolg fußt.
Es geht dabei um eine verbindende Haltung, welche die Vielschichtigkeit unserer Arbeit zum Ausdruck bringt und unsere gemeinsame Vision widerspiegelt, wie die Krankenkasse der Zukunft aussehen wird. Kurz gesagt: Purpose-Entwicklung in einem Unternehmen und einer Branche inmitten der digitalen Transformation.
Führung braucht einen Purpose – auch im Kampf um die Talente
Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Ruf nach Sinnhaftigkeit der Arbeit mit der in vielen Unternehmen stattfindenden digitalen Transformation immer lauter wurde. Die damit einhergehende zunehmende Vernetzung, der intensivere Austausch unter den Abteilungen, immer neue Arbeitsformen, Anforderungen und Prozesse erfordern einen angepassten Führungsstil.
Die Rolle der Führungskraft als Vordenker und Kontrolleur der Zielerreichung wird abgelöst durch die des Ermöglichers und Coaches: Gemeinschaft formen und fördern, für Ideen und Projekte begeistern, das für die Aufgabe nötige Arbeitsumfeld schaffen. Führung heißt heute umso mehr Arbeit an der Kultur eines Unternehmens.
Dabei zeigt sich ein weiterer Mehrwert, sich ein höheres Ziel als Unternehmen zu setzen: Ein Purpose überlebt das Personalkarussell in Führungsmannschaften, er überstrahlt Transformationsprozesse, er schützt Bewährtes und schafft Stabilität, er bietet einen sicheren Heimathafen in Zeiten des Umbruches.
Dabei darf die Purpose-Formulierung aber nicht das Sinnerleben des einzelnen Mitarbeitenden außer Acht lassen: „Welche Wirkung hat meine Arbeit für das große Ganze des Unternehmens?“ Auch darauf muss die Purpose-Strategie Antworten finden. Dies ist nicht zuletzt durch die neuen Ansprüche im „War for Talents“ nötig geworden.
Die Generation Z, also die ab 1994 Geborenen, aus der sich die Nachwuchskräfte und Young Professionals rekrutieren, kommt mit ihren mitunter neuen, eigenen Wertvorstellungen in die Unternehmen und sorgt für einen Wertewandel. Die Wirksamkeit des eigenen Tuns, das Wohlergehen von Mensch und Umwelt ist ihr ein Anliegen. Sie erwartet Engagement von der Wirtschaft – und somit auch von dem Unternehmen, in dem sie arbeitet.
Es ist eine selbstbewusste und kritische Generation, mit dem enormen Potenzial der sozialen Vernetzung und globalem Denken. Attraktive Vergütung, flexible Arbeitszeiten und eine gut austarierte Work-Life-Balance reichen dieser Generation nicht mehr aus, um sich an ein Unternehmen zu binden.
Fazit: Jedes Unternehmen braucht einen gemeinsamen Herzschlag
Es kommt also weniger darauf an, was wir tun, sondern welchen Sinn wir darin erkennen. Laut einer Umfrage des Handelsblatts aus dem vergangenen Jahr haben 18 der 30 Dax-Aktiengesellschaften einen Unternehmenssinn für sich entwickelt. Das ist aus meiner Sicht noch viel zu wenig.
Studien belegen, dass Firmen, die erfolgreich einen Unternehmenssinn etabliert haben, mehr Umsatz erzielen oder eine bessere Aktienkursentwicklung aufweisen. Eine gute Purpose-Strategie ist ein wichtiger Erfolgsfaktor in einer sich in immer höherem Tempo wandelnden Arbeitswelt.
Sie hilft dem Unternehmen, eine gemeinsame Grundhaltung zu definieren und die besonders in der digitalen Transformation so wichtigen Prozesse der Vernetzung und des Kulturwandels zu unterstützen. Sie hilft gleichzeitig, Alleinstellungsmerkmale und Abgrenzungen im Wettbewerb zu schärfen.
In jedem steckt ein Weltverbesserer, und jeder hat das Recht darauf, zu wissen, welchen Mehrwert seine Arbeit hat. Purpose schafft einen gemeinsamen Herzschlag und Bindung an das Unternehmen. Es geht um mehr als „nur“ ein gemeinsames Ziel – es geht um den Sinn, warum wir jeden Morgen aufstehen, motiviert und allen Unwägbarkeiten trotzend den Weg zur Arbeit finden.
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