Gastkommentar: Warum das „Entlastungskabinett“ die Erwartungen weit verfehlt
Eigentlich sollte das „Entlastungskabinett“ Anfang November ein klares Signal für den Bürokratierückbau setzen und als wichtiges Bekenntnis der Bundesregierung zur Entlastung von Unternehmen, Bürgern und der Verwaltung verstanden werden. Doch trotz der hohen Erwartungen war der Rücklauf aus den Ministerien enttäuschend: Nur rund 100 Millionen Euro an beschlussreifen Entlastungen kamen zusammen – bei einem ursprünglich anvisierten Volumen im Milliardenbereich.
Ein zentraler Grund für diese Zurückhaltung liegt im Ressortprinzip. Die Ministerien agieren oft isoliert und verfolgen individuelle Prioritäten, statt als Regierung gemeinsam ein großes Ziel zu verfolgen. Dieses Prinzip erschwert eine kohärente Umsetzung von Bürokratierückbau, da jedes Ressort die Gestaltungshoheit über seine eigenen Regelungen behält.
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Weder Bundeskanzler Merz noch Bundesminister Wildberger können die Ministerien zu signifikanten Entlastungsmaßnahmen zwingen – sie können lediglich den Rahmen vorgeben. Ohne eine wirkliche Selbstverpflichtung der Ressorts bleibt der Bürokratierückbau also Stückwerk.
Dabei gibt es durchaus positive Beispiele. Der Bau-Turbo etwa hat gezeigt, wie durch einzelne entschlossene Maßnahmen große Mengen an Erfüllungsaufwand abgebaut werden können. Beim Bau-Turbo können Städte und Gemeinden künftig schneller grünes Licht für den Wohnungsbau geben.
Solche Paukenschläge müssten eigentlich aus allen Ministerien kommen. Es braucht spürbare, nachhaltige Würfe und keine Kleinständerungen, die nur gut klingen, aber wenig bewirken. Bisher fehlt es in vielen Ministerien aber an einer klaren Verpflichtung.
Bürokratieabbau heißt nicht weniger Sozial- und Umweltstandards
Noch schwerer wiegt das weitverbreitete Missverständnis, dass Bürokratierückbau zwangsläufig mit dem Absenken von sozialen und ökologischen Standards einhergehe. Diese Sichtweise hemmt in vielen Ministerien die Bereitschaft, bürokratische Hürden abzubauen – aus Angst, wichtige Schutzstandards zu gefährden.
Dabei ist das Gegenteil der Fall: Der Abbau unnötiger Bürokratie kann durch den effizienteren und transparenteren Einsatz von Ressourcen sogar dabei helfen, dass Standards leichter eingehalten werden.
Ein konkretes Beispiel ist die Reform des Vergaberechts für öffentliche Aufträge, die das Kabinett im August beschlossen hat und die nun im Bundestag und Bundesrat beraten wird. Das Vergabebeschleunigungsgesetz soll dazu beitragen, dass die für die Modernisierung Deutschlands notwendigen Investitionen auch schnell auf den Weg gebracht werden und nicht an übermäßig hohen bürokratischen Anforderungen scheitern.
Selbiges gilt für die Beschleunigung von Anlagengenehmigungen: Durch eine konsequente Reduzierung unnötiger Doppelprüfungen sowie eine Verfahrensmodernisierung könnte viel erreicht werden, ohne dabei Schutzstandards überhaupt anzutasten.
Aber Überzeugungsarbeit prallt auf das stoische Ressortprinzip. Ohne eine zentrale Steuerung und klare Vorgaben aus dem Bundeskanzleramt wird der Bürokratierückbau immer wieder an seine Grenzen stoßen.
Weniger Bürokratie muss Maxime in neuen Gesetzen werden
Deshalb ist es so wichtig, dass der Kanzler von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch macht und sicherstellt, dass Bürokratierückbau als kontinuierlicher Prozess in die tägliche Arbeit der Ministerien integriert wird.
Eine zielführende Strategie könnte sein, regelmäßige Entlastungskabinette durchzuführen, die mit klaren Zielen und messbaren Ergebnissen unterlegt sind. Dabei muss auch gewährleistet sein, dass zwischen den Kabinettssitzungen keine unnötige Bürokratie aufgebaut wird, die bei den Entlastungskabinettssitzungen nur teilweise wieder abgebaut werden kann.
Dies kann nur gelingen, wenn die Vermeidung von bürokratischen und praxisuntauglichen Regelungen zur Maxime bei der Erarbeitung von Gesetzen wird – lange bevor konkrete Paragrafen geschrieben werden!
Nicht zuletzt muss jedes Ministerium transparent darlegen, welche Entlastungsziele es verfolgt – und auch die Erfolge dieses Prozesses selbst einfahren können. Die ressortscharfen Abbauziele sollen bis zum Jahresende stehen und schaffen Verbindlichkeit für die gemeinsame Teamaufgabe. Niemand kann sich einfach aus der Affäre ziehen, sondern muss zur Erreichung des Gesamtziels seinen Beitrag leisten.
Alle Entlastungsmaßnahmen müssen nachhaltig und langfristig angelegt sein. Bürokratierückbau darf nicht in symbolischen Reformen oder kurzfristigen Aktionen enden. Nur dann können die ehrgeizigen Ziele der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode auch erreicht werden.
Entlastung braucht Struktur – keine Strohfeuer. Damit Bürokratierückbau tatsächlich Wirkung entfaltet, müssen Maßnahmen frühzeitig vorbereitet, ressortübergreifend abgestimmt und langfristig nachgehalten werden – nicht zuletzt durch komplett überarbeitete Prozesse und Strukturen in der Vorbereitung von Gesetzentwürfen.
Der Autor: Lutz Goebel ist Vorsitzender des Nationalen Normenkontrollrats und Mitglied des Präsidiums des Verbands Die Familienunternehmer.