Sozialausgaben: Auswege aus dem überforderten Sozialstaat

Düsseldorf. Würde man eine Umfrage zu der Frage machen, wie viele Sozialleistungen es in Deutschland gibt, so würde mutmaßlich die Mehrheit der Befragten mit zwei oder drei Dutzend antworten. Würde man einem Referatsleiter aus dem Arbeitsministerium diese Frage stellen, so könnte dieser Experte wahrscheinlich um die 100 Leistungen aufzählen. Tatsächlich gibt es aber mindestens 502 bundesweite Sozialleistungen, wie Ifo-Experte Andreas Peichl und sein Team jüngst herausgefunden haben. Unterstellt man eine zeitliche Gleichverteilung bei der Einführung, hätte jeder der bisher 20 Bundestage etwa alle zwei Monate eine neue Leistung verabschiedet.
Eine Folge: Heute fließt fast jeder zweite Euro des Bundeshaushalts in den Sozialetat.
Laut Sozialgesetzbuch I gelten als Sozialleistungen Dienst-, Geld- und Sachleistungen sowie andere Hilfen, die zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit erbracht werden. Die zwölf Sozialgesetzbücher umfassen 3246 Paragrafen, die sowohl die einzelnen Leistungen als auch deren Voraussetzungen festlegen. Zudem begründen eine Reihe spezieller Gesetze wie das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz, das Bundesausbildungsförderungsgesetz oder das Gesetz zur Familienpflegezeit weitere Leistungen.
Regeln teils nicht aufeinander abgestimmt
Ursprünglich wollten die Ifo-Experten Ausmaß und Wirkung aller Sozialleistungen ermitteln. Doch angesichts der schieren Masse erwies sich diese Aufgabe als unlösbar. Viele Regeln sind nicht aufeinander abgestimmt. Dies hat Wechselbeziehungen und Anrechnungsverhältnisse zur Folge, die Mehrfachprüfungen erfordern. Bei 84 Millionen potenziellen Anspruchsberechtigten ist Einzelfallgerechtigkeit mit allen Widerspruchsmöglichkeiten zwar politisch gewollt, faktisch aber nicht zu gewährleisten.
Die Mehrzahl dieser Leistungen steht grundsätzlich allen Bürgern zu, andere sind auf spezielle Zielgruppen wie Familien zugeschnitten. Ein früherer Bericht des Normenkontrollrats, eines unabhängigen Beratungsgremiums der Bundesregierung, zeigt: Eine traditionelle Familie mit Mutter, Vater und Kind hat bei einer anstehenden Geburt Ansprüche auf fünf Leistungen, die innerhalb eines engen Zeitrahmens bei vier Behörden beantragt werden müssen.
Bei komplexeren Familienstrukturen kommt das Gremium auf zwölf Leistungen von acht Behörden. Selbst elementare Begriffe wie „Kind“, „Wohnsitz“ oder „Einkommen“ sind je nach Leistung unterschiedlich definiert. Angesichts der eklatanten Digitalisierungsdefizite in der öffentlichen Verwaltung überrascht es nicht, dass Sachbearbeiter überfordert sind und potenziell Begünstigte an bürokratischen Hürden scheitern.
Zögerliche Digitalisierung
Darüber hinaus gibt es nach den Worten von Digitalminister Karsten Wildberger eine „unfassbare Vielfalt an Portalen“, über die der Staat mit den Bürgern kommuniziert. Die Politik sei lange der Auffassung gewesen, es reiche aus, im Gesetz eine Pflicht zur Digitalisierung zu formulieren. „Tut es aber nicht“, sagt Wildberger. Nach seiner Schätzung gibt es bei Bund, Ländern und Gemeinden insgesamt um die 8000 Portale, die von unterschiedlichen Anbietern programmiert worden seien und die nicht miteinander kommunizieren würden.
Die unter Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eingerichtete „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ fordert deshalb als Erstes einheitliche Begriffsdefinitionen bei den Leistungen. Überdies soll es nur noch drei Bedarfsgruppen geben, unter denen die verschiedenen Leistungen zusammengefasst werden: Kinder und Jugendliche, Erwachsene, Haushalte. Abgerufen würden die Leistungen dann über eine bundesweite, digitale Plattform.
Armut wie Reichtum werden überschätzt
„Anders werden wir diesen Sozialstaat nicht in seiner Effizienz und in seiner Effektivität verbessern können“, stellt der Mitautor und ehemalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück fest. Obwohl immer mehr Geld in den Sozialetat fließt, überschätzt die Mehrzahl der Bürger gleichermaßen Armut wie Reichtum, mit der Folge steigender Unzufriedenheit – ein Teufelskreis.
In der Regel gilt eine Person als armutsgefährdet, wenn deren Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt: In Deutschland gilt dies für etwa 15 Prozent der Bevölkerung. In repräsentativen Umfragen werden jedoch 32 Prozent der Bevölkerung als arm erachtet – während gleichzeitig der Anteil der Reichen deutlich überschätzt wird.
Tatsächlich gibt es bereits eine anerkannte Größe, die Aufschluss darüber gibt, ob jemand als bedürftig oder als leistungsfähig einzustufen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes das „Leistungsfähigkeitsprinzip“ abgeleitet, das die Basis der Einkommensbesteuerung bildet.
Dieses Prinzip besagt, dass jeder nach Maßgabe seiner am Einkommen gemessenen ökonomischen Leistungsfähigkeit die staatlichen Leistungen mitfinanzieren sollte. Zur Ermittlung dieser Leistungsfähigkeit wird das am Markt erzielte Einkommen zunächst um Werbungskosten, also etwa Ausgaben für Berufsbekleidung, Fahrtkosten zur Arbeit oder Bewerbungen, vermindert. In einem zweiten Schritt ist der Abzug von klar definierten Sonderausgaben wie Krankheitskosten vorgesehen. Letztlich ist das so ermittelte steuerpflichtige Einkommen eine individuelle Größe, die die ökonomische Leistungsfähigkeit jedes Steuerpflichtigen beziffert.
Daher stellt sich die Frage, warum bei der Ermittlung individueller Transferansprüche nicht ähnlich vorgegangen wird. Würde man als Schwellenwert das vom Bundesarbeitsministerium regelmäßig ermittelte Existenzminimum und das „zu versteuernde Einkommen“ als maßgebliche Größen heranziehen, ließe sich auf diese Weise nicht nur die individuelle Steuerlast ermitteln. Jeder Haushalt, dessen so ermitteltes Einkommen unterhalb dieses Existenzminimums liegt, hätte grundsätzlich Anspruch auf staatliche Transfers.
Geringe Zielgenauigkeit
Die Summe der Sozialausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt ist seit der deutschen Einheit von 25 auf 31 Prozent gestiegen. Allein in den vergangenen zehn Jahren wuchs diese Quote um etwa 2,5 Prozentpunkte – obwohl es keinen deutlichen Anstieg der Armut gab.
Allerdings erweisen sich eine Reihe von Maßnahmen als wenig zielgenau oder stehen sogar im Konflikt mit anderen, etwa arbeitsmarktpolitischen Zielen. Die Folge sind Interventionsspiralen: Fehlkonstruierte Regeln werden durch neue Vorschriften korrigiert. Gleichzeitig wächst in der Bevölkerung infolge mangelnder Transparenz sowie in sozialen Medien verbreiteter „Fake News“ das diffuse Gefühl, ungerecht behandelt zu werden.




Ein transparenter und digitalisierter Sozialstaat wäre eine Antwort. Solch ein Sozialstaat steht keineswegs für den oft befürchteten Kahlschlag bei den Leistungen, sondern für eine bessere Administrierbarkeit und eine höhere Zielgenauigkeit. Gerade in Zeiten von Krisen und gesellschaftlichen Umbrüchen sind stabile und leistungsfähige soziale Sicherungssysteme notwendig, um die sozialen Folgen struktureller Anpassungsprozesse abzufedern.
Ein in diesem Sinne moderner Sozialstaat könnte die Ängste der Beschäftigten vor technologischen Umbrüchen wie der Künstlichen Intelligenz mindern und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Solch ein Sozialstaat würde auch von Wirtschaftsvertretern nicht nur als Belastung wahrgenommen, sondern könnte zu einem positiven Standortfaktor werden – und davon hat Deutschland heute nicht mehr allzu viele.
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