1. Startseite
  2. Meinung
  3. Kommentare
  4. Arbeitsmarkt: Von Hartz IV zum Bürgergeld und zurück

ArbeitsmarktVon Hartz IV zum Bürgergeld und zurück

Vor drei Jahren bezeichnete der damalige Sozialminister Hubertus Heil das Bürgergeld als die größte Sozialstaatsreform seit 20 Jahren. Ein kapitaler Irrtum.Bert Rürup 24.10.2025 - 10:45 Uhr Artikel anhören
Bürgergeldantrag: Die letzte Reform der Grundsicherung war nötig, greift aber laut unserem Kolumnisten zu kurz. Foto: Carsten Koall/dpa

Zahlreiche Mitglieder und Anhänger der SPD sahen in der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II so etwas wie eine Ursünde. Denn diese unter der Chiffre Hartz IV bekannt gewordene Sozialleistung habe gerade die älteren Arbeitnehmer verunsichert und einen breiten Keil zwischen die SPD und ihre Kernwählerschaft im Gewerkschaftslager getrieben. Ein stetiger Abstieg der SPD in der Wählergunst sei die Folge gewesen.

Um diesem Trauma vieler Mitglieder und Sympathisanten der Partei zu begegnen, ersann die damalige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles im Jahr 2018 das „Bürgergeld“. Dieser Begriff klang freundlicher als Arbeitslosengeld II oder Hartz IV und war zudem geeignet, Assoziationen mit einem bedingungslosen Grundeinkommen zu wecken. Am 10. November 2022 war Hubertus Heil, der Sozialminister der Ampel-Koalition, überzeugt, die „größte Sozialstaatsreform seit 20 Jahren“ zu verkünden: das Ende von Hartz IV und den Beginn einer neuen Bürgergeld-Ära.

Entgegen den Erwartungen verhalf diese Reform der SPD aber nicht zu einer steigenden Wählergunst. Nach dem damaligen Politbarometer hätte die SPD bei einer Bundestagswahl 19 Prozent der Wählerstimmen bekommen – heute müsste man wohl sagen „immerhin“. Denn bei der Bundestagswahl Ende Februar erlangte die Partei mit einem Stimmenanteil von 16,4 Prozent gerade einmal 120 Sitze im Bundestag und wurde nur noch die drittstärkste Kraft und abermals Juniorpartner in einer – vergleichsweise kleinen – Großen Koalition. Heute liegt die Partei in der Wählergunst bei 15 Prozent.

Anfang Oktober einigten sich Union und SPD auf eine Reform, die faktisch die Abschaffung des Bürgergelds und eine Rückkehr zum Status quo ante bedeutet. „Wer nicht mitmacht, wird es schwer haben“ – mit diesen Worten beschrieb die Co-Vorsitzende der SPD und amtierende Sozialministerin Bärbel Bas auch ihre eigene Rolle mit Blick auf die wieder verschärften Mitwirkungspflichten der Leistungsempfänger.

Überdies wolle die Regierung gegen Betrug und Leistungsmissbrauch durch „mafiöse Strukturen“ vorgehen – ohne freilich zu begründen, warum dies erst jetzt geschehen soll. Offensichtlich bedurfte es des verkorksten NRW-Kommunalwahlkampfs, damit die Parteiführung registrierte, dass die SPD von vielen nicht mehr als Partei der Arbeitnehmer, sondern eher als „Partei der Arbeitslosen“ wahrgenommen wurde.

Hinzuverdienstregeln hemmen

Künftig müssen unkooperative Grundsicherungsempfänger, die etwa Termine nicht wahrnehmen, wieder mit zum Teil deutlichen Leistungskürzungen rechnen. Im Extremfall sollen sogar alle Leistungen gestrichen werden können. Überdies werden die Schwellenwerte für die Schonvermögen heruntergesetzt, was vor allem jene Personen treffen wird, die angesichts der hartnäckigen gesamtwirtschaftlichen Schwächephase nach zwölf Monaten Arbeitslosigkeit keine neue Beschäftigung gefunden haben und deshalb vom Arbeitslosengeld in die Grundsicherung wechseln.

Diese Reform der Reform war dringend angezeigt, greift aber zu kurz. Denn das seit Langem bekannte Problem der demotivierenden Hinzuverdienstregeln wird abermals nicht angegangen. Wenn heute ein Langzeitarbeitsloser mehr als 100 Euro pro Monat hinzuverdient, werden 80 Prozent des den Grundfreibetrag von 100 Euro übersteigenden Lohns auf die staatliche Unterstützung angerechnet – der berechtigten Wahrnehmung nach ist dies eine prohibitiv hohe Zwangsabgabe.

Zudem kann es im Zusammenspiel mit der Übernahme der Wohnkosten und mit den Leistungen für Kinder in teuren Großstädten zu Konstellationen kommen, bei denen selbst eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zum Durchschnittsverdienst im Vergleich zur Grundsicherung kaum mit relevantem Nettoeinkommenszuwachs verbunden ist. Faktisch ist dies ein staatlich gesetzter Fehlanreiz zur Nichtarbeit oder zur Schwarzarbeit; denn in Extremfällen sind sogar Grenzbelastungen von mehr als 100 Prozent möglich.

Von den fast vier Millionen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im Bürgergeld sind heute kaum mehr als 800.000 erwerbstätig – und davon weniger als 80.000 in einer Vollzeitbeschäftigung. Die meisten Bürgergeldempfänger arbeiten in Teilzeit oder gehen einem Minijob nach – auffallend oft mit einem anrechnungsfreien Monatsverdienst von 100 Euro. So ist die Vermutung nicht abwegig, dass es sich dabei häufig um „Tarnkappenjobs“ handelt, bei denen nur ein Teil der Tätigkeit legal angemeldet und ein weiterer Teil „schwarz“ ausgeübt wird.

„Wenn man die Wahl hat, entweder brutto für netto mehr zu verdienen oder aber für mehr Brutto kaum oder kein zusätzliches Netto zu erhalten, verwundert diese Reaktion auf die Anreize des Sozialsystems nicht“, stellt Ifo-Experte Andreas Peichl fest.

Arbeitsangebot gezielter stimulieren

Dieses Problem ist hinlänglich bekannt, und Arbeitsmarktexperten haben daher verschiedene Reformvorschläge unterbreitet. Nach einem neuen Vorschlag des Ifo-Instituts sollten das Wohngeld und der Kinderzuschlag zu einer integrierten Leistung auf Basis der Grundsicherung zusammengefasst werden. Im Gegenzug solle der bisherige Freibetrag von 100 Euro entfallen. Stattdessen sollten bei Haushalten ohne Kinder Monatseinkommen bis zu einem Eckwert von 380 Euro vollständig angerechnet werden. Dies hätte zur Folge, dass sich entsprechende Jobs faktisch nicht mehr lohnen.

Oberhalb des Eckwerts könnte die Transferentzugsrate für Alleinstehende bei 65 Prozent und für Paare bei 80 Prozent liegen. Bei Haushalten mit Kindern sollte für Paare eine Entzugsrate von 65 Prozent ab dem ersten Euro gelten; Alleinerziehende unterliegen bis 380 Euro einer Rate von 70 Prozent, anschließend wirkt ein „kindbezogener Einkommensbooster“ von 300 Euro je Kind, danach wieder 70 Prozent.

Interview

Wirtschaftsweiser fordert Reform: „Für den Beamtenstatus gilt auch Peitsche statt des Zuckerbrots“

Sicherlich sind einfachere Lösungen denkbar. Allerdings wäre es durch eine Kombination unterschiedlicher Entzugsraten möglich, das Arbeitsangebot gezielter zu stimulieren und zugleich fiskalische Einsparungen unter Berücksichtigung verteilungspolitischer Ziele zu erzielen. Denn eine „One-size-fits-all-Lösung gibt es nicht“, schreibt das Ifo-Institut zutreffend.

Verwandte Themen SPD Bundestagswahl Hubertus Heil Bärbel Bas Bürgergeld Andrea Nahles

Die vorgelegten Simulationsergebnisse sind eindrucksvoll: Die geleisteten Arbeitsstunden nähmen um 149.000 Vollzeitäquivalente zu. Und unter Berücksichtigung dieser Anpassungsreaktionen würde solch eine Reform beim Staat zu Einsparungen von 4,5 Milliarden Euro führen, schätzt Ifo. Folgt man den Simulationsrechnungen, dann würden die positiven Arbeitsangebotsreaktionen die anfänglichen Belastungen bei den verfügbaren Einkommen vollständig kompensieren.

Warum sich bislang alle Sozialminister gegen solch eine „Win-win-Reform“ gesperrt haben, bleibt ein Rätsel. Auch Bärbel Bas macht bislang nur wenig Anstalten, an den bestehenden problematischen Zuständen etwas zu ändern. Man kann nur hoffen, dass nicht die Angst vor der eigenen Courage der Grund dafür ist.

Mehr: Deutschlands Industrie verliert den Glauben an ihre Zukunft – drei Schlüsselbranchen zeigen das Ausmaß

Mehr zum Thema
Unsere Partner
Anzeige
remind.me
Jetziges Strom-/Gaspreistief nutzen, bevor die Preise wieder steigen
Anzeige
Homeday
Immobilienbewertung von Homeday - kostenlos, unverbindlich & schnell
Anzeige
IT Boltwise
Fachmagazin in Deutschland mit Fokus auf Künstliche Intelligenz und Robotik
Anzeige
Presseportal
Direkt hier lesen!
Anzeige
STELLENMARKT
Mit unserem Karriere-Portal den Traumjob finden
Anzeige
Expertentesten.de
Produktvergleich - schnell zum besten Produkt