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GastkommentarWarum Deutschland jetzt einen Europa-Pakt braucht

Deutschland schwächelt und sollte sich wieder stärker auf den EU-Binnenmarkt konzentrieren, meinen Johannes Lindner und Nils Redeker. Sie fordern eine Modernisierungsstrategie. 19.09.2023 - 09:20 Uhr
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Johannes Lindner (l.) ist Co-Direktor des Jacques Delors Centre und Nils Redeker ist stellvertretender Direktor des Jacques Delors Centre der Hertie School, Berlin.

Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz; Imago

Deutschland gilt wieder als kranker Mann Europas, und das Land diskutiert über Reformagenden, Brückenstrompreise und einen neuen Deutschland-Pakt. Kurioserweise spielt Europa kaum eine Rolle. In den Kommentarspalten und Plenardebatten stapeln sich die Zehn-Punkte-Pläne. Die EU sucht man darin vergebens.

Das mag wenig überraschen. Kranke Männer neigen zum Selbstmitleid, und Bauchschmerzen verleiten zur Nabelschau. Zudem gibt es hierzulande genug zu tun. Dennoch wird das Land diese Strukturkrise nicht in Eigenregie lösen.

Von Energie- und Industriepolitik bis Exportorientierung und Bürokratieabbau braucht Deutschland ein neues Wachstumsmodell. Dafür ist die Bundesrepublik mehr denn je auf Europa angewiesen.

Die deutsche Transmission ist vom Ausbau der europäischen Transmission abhängig

Günstige grüne Energie gibt es beispielsweise nur europäisch. Keine nationale Maßnahme wird verhindern, dass Deutschland künftig mehr Strom importieren muss. Saubere Energie lässt sich in den sonnigeren Teilen Europas preiswerter produzieren. Zudem braucht es Importe, um die schwankende Verfügbarkeit nationaler Erneuerbaren auszugleichen.

Dazu muss grüne Energie von Saragossa bis Salzgitter fließen. Bisher fehlen dafür Leitungen, Digitalisierung und das richtige Strommarktdesign. Bis 2030 müssen laut EU-Kommission daher 585 Milliarden Euro investiert werden. Die deutsche Transformation hängt also am Ausbau der europäischen Transmission.

>> Lesen Sie hier: Die Energiewende braucht enorme Investitionen

Auch industriepolitisch braucht Deutschland Europa. Hierzulande gilt die EU als beihilferechtlicher Hemmschuh. Dabei wäre eine Europäisierung der Industriepolitik im deutschen Interesse. Die Bundesregierung hat sich zuletzt ausgiebig für die heftig subventionierte Ansiedlung von Intel in Magdeburg gefeiert. Untergegangen ist, dass das Werk eng mit einer Intel-Fabrik in Breslau zusammenarbeiten wird, in dem die deutschen Halbleiter zu fertigen Prozessoren verarbeitet werden. Dafür ist viel polnisches Steuergeld geflossen.

Intel plant weitere Investitionen in Frankreich, Spanien und Italien. Der Erfolg des deutschen Vorzeigeprojekts wird maßgeblich davon abhängen, was in anderen EU-Ländern passiert. Um stark in Zukunftstechnologien zu werden, braucht Deutschland Arbeitsteilung und Skalierung über die gesamte EU hinweg. Das erfordert industriepolitische Koordinierung und gemeinsame Finanzierung.

Effektives „Reshoring“ geht nur über den Binnenmarkt

Deutschland darf sich auch deshalb nicht auf Kosten des Binnenmarkts gesund „wummsen“ – gerade da es auf ihn besonders angewiesen ist. In den Boomjahren haben deutsche Exporte von chinesischer und amerikanischer Nachfrage profitiert. Jetzt investieren beide Länder Unsummen, um Importe durch eigene Produktion zu ersetzen.

Angesichts neuer geopolitischer Spannungen braucht Deutschland die EU wieder stärker als Absatzmarkt und handelspolitisches Pfund. Effektives „Reshoring“ geht nur über den Binnenmarkt.

Zudem ist die Bundesrepublik auf die EU angewiesen, um sich gegen die aggressiven Handelspraktiken Chinas zu wehren und im globalen Rennen um neue Rohstoffe attraktive Angebote an andere Länder machen zu können.

Die Politik darf sich nicht in Dauersubventionen verheddern. Sie muss Freiräume für Innovationen lassen und die Verwaltung verschlanken. Da Wirtschaftsregeln aber meist in Brüssel gemacht werden, greift eine regulative Entrümplungsagenda ohne Europa zu kurz.

Der Green Deal der EU und die digitale Transformation sind schnell auf den Weg gebracht worden. Allerdings sind auch Widersprüche und viel an Bürokratie entstanden, die es jetzt kritisch zu überprüfen gilt. Nur so kann neue Regulierung einen realwirtschaftlichen Mehrwert leisten und die EU wieder ein globaler Regelsetzer werden.

Regierung sollte eine Gesamtstrategie zur Modernisierung Deutschlands entwickeln

Neben einem Deutschland-Pakt braucht die Bundesrepublik daher einen Europa-Pakt. Die wichtigsten Elemente werden längst diskutiert. Deutschland steht jedoch häufig nur am Rand, missbraucht die europäische Ebene für parteipolitische Profilierung oder nuschelt neue Finanzierungsschritte mit dem Verweis auf das noch laufende EU-Investitionsprogramm aus der Pandemie weg.

Deutschland muss mehr Gestaltungsverantwortung übernehmen, sollte jetzt eine Gesamtstrategie zur Modernisierung des Landes und Europas entwickeln und diese eng mit den anderen Mitgliedsländern – vor allem Frankreich – und den EU-Institutionen abstimmen.

Die Zeit drängt: Der Europawahlkampf läuft an, und eine neue Kommission wird ihr Arbeitsprogramm im zweiten Halbjahr 2024 festlegen. Hier gilt es, Weichen zu stellen. Und danach wartet schon die Bundestagswahl. Für die anfangs erwähnte Nabelschau ist also jetzt keine Zeit.


Die Autoren:

Johannes Lindner ist Co-Direktor des Jacques Delors Centre.

Nils Redeker ist stellvertretender Direktor des Jacques Delors Centre der Hertie School, Berlin.

Verwandte Themen Deutschland Europäische Union Europa Berlin Industriepolitik Bundestagswahl


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