Gastkommentar: Was man von Tesla über die Digitalisierung lernen kann

Der Autor ist Digitalunternehmer aus Köln, CEO der Ubirch GmbH und Mitglied im Beirat junge digitale Wirtschaft im Bundeswirtschaftsministerium. Er ist weder Tesla-Fahrer noch Tesla-Aktionär
Vor Kurzem haben japanische Ingenieure ein aktuelles Tesla Model 3 auseinandergenommen und die Bauteile analysiert. Dabei ist herausgekommen, dass in dem E-Fahrzeug aus Kalifornien eine zentrale Schalt- und Rechenkomponente eingesetzt wird, die über eine erhebliche Leistungsfähigkeit verfügen muss und vermutlich schon heute ausreichend Computing-Reserven aufweist, um autonomes Fahren und Künstliche Intelligenz zu ermöglichen.
Die Techniker kommen zu dem Schluss, dass Tesla der restlichen Autoindustrie vermutlich bis zu sechs Jahre voraus ist, was diese Komponenten anbelangt. Es ist übrigens nicht zum ersten Mal, dass ein Tesla auseinandergenommen und analysiert wurde – schon vor einigen Jahren stellten Ingenieure bei der Filetierung eines Model S fest, dass das Fahrzeug über eine überraschend hohe und hochwertige Anzahl von Sensoren verfügt.
Der Hersteller wurde damals etwas verlacht für diese sehr ineffiziente Bauweise, und es wurde vermutet, dass sich die Autos mit diesem verschwenderischen Technikeinsatz sicher nie profitabel würden produzieren lassen.
Inzwischen hat Tesla bewiesen, dass es doch geht. Aber mir ist ein anderer Punkt an den Ergebnissen der beiden Auto-Auseinanderschraubungen wichtig – ein Punkt, der weit über die Automobilindustrie hinausweist. Es ist sinnvoll, sich zu überlegen, was die Ingenieure da eigentlich jeweils vorgefunden haben beim Auseinanderbauen.
Und was wir daraus lernen können. Ich bin davon überzeugt, dass in der Interpretation des Tesla-Innenlebens ein zentrales Missverständnis zu erkennen ist, das uns in Deutschland vielleicht noch viel Wohlstand kosten wird, wenn wir es nicht bald ausräumen.
Grundsätzliches Missverständnis
Das Missverständnis betrifft die Art, wie die Digitalisierung funktioniert und wie Produkte aussehen, die für die neue digitale Ära entwickelt wurden. Denn was die Ingenieure da im Innern der beiden Modelle vorgefunden haben, sind vor allem elaborierte und extrem leistungsfähige Dateninfrastrukturen.
Die Sensorik des Wagens erzeugt erhebliche Mengen an Daten, die permanent in die Tesla-Cloud hochgeladen werden. Die leistungsfähige KI-Schaltzentrale wiederum ist in der Lage, riesige Datenmengen in hoher Geschwindigkeit zu verarbeiten und intelligente, datengetriebene Entscheidungen zu fällen.
Tesla verfolgt eine Datenstrategie, und das physische Auto ist teilweise fast nur noch ein Objekt, um diese Datensphäre zu ermöglichen, z. B., indem auf einem riesigen Display im Auto Dinge angezeigt werden. Das kann durchaus auch mal ein elektronisches Furzkissen sein. Viel wahrscheinlicher aber ist es, dass es faszinierende neue Services sein werden, die eine „Freude während des Fahrens“ produzieren.
Autos traditioneller Hersteller setzen die Möglichkeiten der Digitalisierung in einem ganz anderen Sinne ein – hier ist die Sensorik nur als Unterstützung des physischen Objekts und Erlebnisses gedacht, also etwa ein Regensensor, der den Scheibenwischer einschaltet, oder ein Gefrier-Sensor, der der Zentrale mitteilt, dass die Düsen nicht mehr gehen.
Die Digitalisierung verändert fundamental unsere Welt. Das merken wir immer häufiger darin, wie unser Privatleben funktioniert. Aber natürlich trifft das auch auf Bereiche zu, die das Geschäftsleben dominieren. Es ist inzwischen gut erkennbar, dass die Digitalisierung nach einem typischen, immer wiederkehrenden Muster verläuft.
Das Muster besteht im Wesentlichen darin, dass physische Objekte und Prozesse erst einmal mit dem Internet verbunden werden, z. B. durch Sensorik, Mobilfunk und Datenschnittstellen. Durch diesen ersten Schritt entsteht – erst recht mit immer mehr Sensoren und schnelleren Datenströmen, wie z. B. 5G-Tele- und -Datenkommunikation sie bringen wird – ein immer besseres digitales Abbild der physischen Welt.
Experten sprechen vom digitalen Schatten oder Zwilling, also einem Abbild, das sein physisches Pendant perfekt nachzeichnet und sich ständig aktualisiert. In der nächsten Stufe wird auch der Rückkanal aktiviert. Nun spricht das digitale Abbild mit dem realen Objekt und kann seinen Zustand verändern.
Zum Beispiel verändert eine neu berechnete Wetterprognose die Preisschilder der verderblichen Waren im Supermarkt automatisch, während man davorsteht. Bis hierhin ist es noch relativ harmlos, könnte man sagen – ein paar digitale Abbilder entstehen, und hier und dort kommt ein interessantes neues Feature hinzu – Bananen werden bei heraufziehenden Gewitterwolken billiger. Na und?!
Aber der entscheidende Schritt in der Digitalisierung, der den großen Sog dieser Umwandlung ausmacht und auch ihr zerstörerisches (oder „disruptives“) Potenzial, beginnt erst jetzt. Mit immer besserer digitaler Abbildung beginnen diese Abbilder ein Eigenleben zu entfalten, die Beziehungen und Datenaustausche zwischen den Objekten in der digitalen Sphäre nehmen plötzlich rasant zu.
Das hat ein paar praktische und sehr nachvollziehbare Gründe. Es ist schlicht günstiger und schneller, den Status eines Objektes einem anderen mitzuteilen, wenn beide sowieso in der gleichen Cloud abgebildet werden. Also könnte ein Auto einer Werkstatt mitteilen, dass die Wischerdüsen vereist sind.
Die Werkstatt würde kurz im Bestandssystem nachsehen, ob das passende Additiv im Regal steht, und schnell mit der Cloud des Herstellers abstimmen, ob weitere Dinge zu beachten sind. All das kann in Bruchteilen von Sekunden geschehen, etwa in dem Moment, wo der Autofahrer die Tür an der Tankstelle öffnet.
Zusätzlicher Sensor, statt Piepsen beim Einparken
Verglichen mit dem analogen Prozess des Nachfragens beim Tankwart, der dann nachsieht, nachschlägt und vielleicht kurz telefoniert, ist der digitale Prozess umso vieles eleganter, schneller und effizienter – dass er im Vergleich selbstverständlich gewinnen und in Zukunft das Rennen machen wird. Und die Kunden werden diese neuen Features ihres Autos auch lieben, alles wird so viel einfacher und komfortabler.
Wie klar digitale Prozesse im Vorteil sind, kann man sich übrigens konkret anschauen, indem man Branchen in den Blick nimmt, die die Digitalisierung schon „hinter sich haben“. Hier helfen digitale Daten, die Nutzung von Produkten und speziellen Eigenschaften in Echtzeit zu verstehen und anzupassen.
So im E-Commerce, wo heutzutage praktisch jeder andere Preise angezeigt bekommt, je nachdem, ob er oder sie gerade dies oder das auf dem Rechner vorher getan hat. Daten sind der Treiber der Digitalisierung, und die „Datifizierung“ bereitet diesem Prozess den Boden. Außerdem gilt: Sobald ein Prozess reif ist, digitalisiert zu werden, wird es auch passieren.
Aber zurück zu Tesla und warum sich mehr als nur die deutsche Automobilindustrie Sorgen über die Entdeckungen der japanischen Ingenieure machen sollte. Was die US-Firma mit dem exzessiven Einsatz von Sensorik und Computing-Power in den Autos verfolgt, ist eine sehr konsequente Datenstrategie.
Tesla-Gründer Elon Musk weiß, dass derjenige das Rennen gewinnen wird, der am konsequentesten das Auto in ein Datenobjekt verwandelt bekommt. Daher weiß er auch, dass ein zusätzlicher Sensor deutlich mehr wert ist, als nur ein Piepsen beim Einparken auszulösen.
Der zusätzliche Sensor verursacht weiteren Datenstrom in die Cloud, verbessert das digitale Abbild des Autos und seiner Umgebung und perfektioniert das Auto als digitales Objekt. Das ist der eigentliche Wert. Auf Basis dieser digitalen Abbildung werden wir in den nächsten Jahren immer neue Geschäftsmodelle sehen, die in jedem Einzelfall ihrem alten analogen Pendant überlegen sein werden.
Flottenmanagement, datengesteuerte, vollautomatische Versicherungstarife, automatische Wartung, aber auch Einsatz des Fahrzeugs für völlig neue Dienstleistungen wie Logistik, Paketablage und Dinge, die wir uns noch gar nicht vorstellen können. Das autonome Fahren ist nur ein glanzvoller Sonderpunkt auf dieser Liste.
Was heißt das für Deutschland?
Warum wir uns Sorgen machen sollten wegen dieser Befundlage in Deutschland? Das Verständnis der Digitalisierung in den Köpfen deutscher Manager ist noch immer weit davon entfernt, diese Revolution in ihrer Substanz zu erfassen und entsprechend zu handeln.
Automanager denken, sie müssten größere Anzeigeinstrumente und Sprachassistenten in ihre Fahrzeuge einbauen, die auf „Hey Mercedes“ reagieren. Und damit könne man dann schon mithalten. Tatsächlich müssten viel größere Schritte eingeleitet werden, um die Digitalisierung der Produkte voranzutreiben – eine aggressive Datenstrategie sollte für Autobauer in 2020 ein zentraler Baustein sein.
Und nicht nur für Autobauer. Denn es spricht alles dafür, dass dieser Prozess der Digitalisierung ebenso den Maschinenbau und die industrielle Fertigung sowie andere Bereiche erfassen wird. Auch Maschinen brauchen eine Datenstrategie, müssen per Blockchain und KI aus der Cloud steuerbar sein. Doch Stand heute wird das alles nicht passieren.
Experten sagen, dass die Digitalisierung längst das Ausmaß der industriellen Revolution hat. Als die erste industrielle Revolution vor etwa 200 Jahren ihren Anfang nahm, arbeiteten rund 70 Prozent der Menschen in der Landwirtschaft.
Innerhalb weniger Jahre sank der Anteil drastisch. Heute sind es noch etwas mehr als ein Prozent. Trotzdem hat man mitunter das Gefühl, dass unsere Industrie agiert, als ginge es darum, bessere Pflüge zu schmieden und neue Futtermischungen für die Zugpferde herauszubringen.
Podcast von Orange by Handelsblatt zum Thema:





