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SozialsystemRentenreformen sind unpopulär – doch es gibt einen Ausweg

Deutschland muss die sozialen Sicherungssysteme neu denken. Die Ignoranz des demografischen Wandels durch die derzeitige Politik führt die soziale Sicherung an ihren Abgrund, meint Axel Börsch-Supan. 10.10.2024 - 17:00 Uhr Artikel anhören
Axel Börsch-Supan ist Direktor des München Center for the Economics of Aging der Max-Planck-Gesellschaft. Foto: AndreasMüller Fotografie / München

Deutschland steht vor einem massiven demografischen Wandel, der längst eingesetzt hat. Das schafft nicht nur einen Mangel an Arbeitskräften, sondern setzt auch die sozialen Sicherungssysteme zunehmend unter Druck.

Das Problem ist bekannt. Aber die Bundesregierung versucht nicht, diese Entwicklung abzumildern. Mit teuren Haltelinien beim Rentenniveau, während Renteneintrittsalter und Frühverrentungsprogramme wie die „Rente mit 63“ unangetastet bleiben, verschärft sie das Problem zusätzlich.

>> Dieser Gastkommentar ist ein Beitrag zur großen Handelsblatt-Aktion „Zukunftsplan Deutschland“. Alle Texte finden Sie hier.

Berlin rühmt sich zwar, mit dem Generationenkapital den Einstieg in die kapitalgedeckte Alterssicherung geschaffen zu haben. 200 Milliarden Euro an Krediten will die Regierung in den nächsten Jahren am Kapitalmarkt anlegen und mit den Renditen die Rentenversicherung stabilisieren.

Das ist aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn es denn überhaupt funktioniert. Um die sozialen Sicherungssysteme zu stabilisieren, müssten andere Maßnahmen her. Und das muss gar nicht die altbekannte Forderung nach einem höheren Renteneintrittsalter sein, dessen Umsetzung sich vergangene Regierungen nicht zutrauten und die wohl auch künftige Regierungen nicht angehen werden.

Die Idee mit dem Generationenkapital ist gut. Sie kommt nur zu spät, und es ist zu wenig. Die Babyboomer-Generationen gehen jetzt nach und nach in Rente und bringen die Rentenversicherung ins Kippen. Außerdem werden die Renditen, von denen zuerst Zinsen und Tilgung abgehen, zu gering sein, um die riesige Rentenversicherung zu sichern. 200 Milliarden Euro gibt die Rentenversicherung derzeit in gerade einmal sechs Monaten aus. Langfristig dürfte das Generationenkapital den Rentenbeitrag lediglich um rund 0,3 Prozentpunkte reduzieren.

Pflegeversicherung stabilisieren statt Renten stützen

Die 200 Milliarden Euro an den Kapitalmärkten sollten die Regierung deshalb anderweitig einsetzen: für die Pflegeversicherung. Auch bei der Pflege droht Ungemach angesichts des demografischen Wandels – allerdings erst später. Pflegebedürftig werden die meisten Menschen erst einige Zeit nach dem Renteneintritt. Es ist also noch Zeit, das System zu stabilisieren, ohne teure Kredite aufzunehmen, sodass die gesamte Kapitalrendite der Pflegeversicherung zugutekommt, ohne den Abzug von Zinsen und Tilgung.

Hinzu kommt, dass die Ausgaben bei der Pflegeversicherung insgesamt viel kleiner sind als bei der Rente. Die erwirtschafteten Renditen hätten dadurch einen viel größeren Effekt auf die Beiträge. Langfristig könnte ein Umschichten des Generationenkapitals zugunsten der Pflegeversicherung fünf Prozentpunkte bei den Beiträgen sparen.

Die skandinavischen Länder haben diesen Weg längst erfolgreich beschritten. Für Deutschland wäre nun der letzte Zeitpunkt, das auch zu tun, um noch von den Vorteilen zu profitieren.

Frührenten gezielt anpassen

Der Übergang der Pflegeversicherung in die Kapitaldeckung würde zunächst natürlich einiges kosten. Aber er wäre auch an dieser Stelle deutlich leichter als bei der Rente, weil Beamte und Selbstständige meist pflegeversichert sind und ihren Teil der Übergangsbelastung mittragen.

Das allein wird aber nicht reichen, um auf den demografischen Wandel zu reagieren. Es wird kein Weg daran vorbeiführen: Die Haltelinie ist nicht finanzierbar, und die Deutschen werden länger arbeiten müssen. Das allgemeine Renteneintrittsalter, um das sich so gern gestritten wird, ist dabei allerdings nicht das Hauptproblem.

Vielmehr sind es die Frühverrentungsprogramme, allen voran die viel diskutierte „Rente mit 63“. Dieses Programm wird bis heute viel mehr genutzt, als die damalige Bundesregierung bei der Einführung prognostizierte.

Die ‚Rente mit 63‛ einfach abzuschaffen ist nicht die Lösung.
Axel Börsch-Supan

45 Jahre muss ein Arbeitnehmer in die Rentenversicherung eingezahlt haben, um ohne Abschläge in den Ruhestand einzutreten. Allerdings kommt kaum einer mit wirklicher Arbeit auf diese Zahl. Das Programm wird vor allem deshalb so viel genutzt, weil bei vielen Beschäftigten die langen Ausbildungszeiten eingerechnet werden.

Die „Rente mit 63“ einfach abzuschaffen ist allerdings nicht die Lösung. Der so oft zitierte Dachdecker, der nicht bis 70 arbeiten kann, ihn gibt es schließlich tatsächlich. Doch es gibt auch genügend Bürokräfte, für die das nicht gilt. Doch das Problem ist, dass im deutschen Rentensystem der Dachdecker stets der Maßstab ist.

Rentenreform erfordert mutige Entscheidungen

Ändern ließe sich das, indem nicht mehr allein die Jahre zählen, die man in die Rentenkasse eingezahlt hat. Stattdessen sollte eine Gesundheitsprüfung bei Mitte Sechzigjährigen eingeführt werden: Wer noch länger arbeiten kann, muss das auch tun oder kann sich mit Abschlägen einen früheren Renteneintritt erkaufen.

Ebenso muss man die Haltelinie nicht komplett abschaffen. Aber es ist nicht einzusehen, warum Besserverdienende auf Kosten der jüngeren Generation stark steigende Renten erhalten sollen.

Man darf sich nichts vormachen: Deutschland wird zur Gerontokratie, damit werden auch diese Maßnahmen Widerstand auslösen. Eine neue Bundesregierung nach den Wahlen 2025 wird aber ein Interesse haben, dass Thema anzugehen. Denn die Schieflage der sozialen Sicherungssysteme ist so weit vorangeschritten, dass der Einbruch zwar noch nicht in der kommenden Legislaturperiode stattfinden würde. Aber es gäbe ihn in der Periode danach.

Die neue Bundesregierung wird voraussichtlich nicht aus der Ampelkoalition bestehen. Ein neues Bündnis dürfte sich formen, sicherlich mit dem Anspruch, mehr als eine Legislaturperiode zu regieren. Die neue Bundesregierung sollte also den Ehrgeiz haben, die Reformen schnell nach den Wahlen abzuräumen, um sich selbst die Chance auf eine zweite Amtszeit nicht gleich zu nehmen.

Es wird sicherlich Beteiligte in der Regierung geben, die trotzdem Angst vor einem Aufstand in der Bevölkerung haben. Aber dahingehend bleibt nur der Rat: So dumm sind die Leute dann doch nicht. Die Begründung für eine Sozialreform, dass es immer mehr Alte gibt, die von immer weniger Jungen finanziert werden müssen, ist nicht zu kompliziert.

Der Vorschlag der schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahren kam von wem? Franz Müntefering von der SPD. Und der hatte nicht mit Widerstand aus der Bevölkerung zu kämpfen, sondern vorrangig mit dem aus seiner Partei.

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Die konkreten Handlungsempfehlungen:

  1. Nutzung der Kapitaldeckung im Rahmen des „Generationenkapitals“ für die Pflegeversicherung statt für die Rentenversicherung.
  2. Statt einer pauschalen Heraufsetzung des Rentenalters Einführung einer Gesundheitsprüfung für Beschäftigte mit Mitte 60.
  3. Umsetzung der Reformen in der Legislaturperiode ab 2025, bevor es zum Einbruch des bestehenden Systems kommt.
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