Geoeconomics: Deutschland allein zu Hause
Seit 1949 steht die deutsche Außenpolitik auf zwei Pfeilern: zum einen das transatlantische Bündnis und die Partnerschaft mit den USA; zum anderen das europäische Integrationsprojekt und die enge Verbindung mit Frankreich. Die USA und Frankreich sind neben Israel die einzigen Verbündeten, die in der Nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung explizit genannt werden. Das Bekenntnis zu Nato und EU ist in Deutschland breit geteilter, überparteilicher Konsens. Erstarkender Populismus und Euroskeptizismus, der Brexit und vor allem die US-Präsidentschaft von Donald Trump haben diese beiden Pfeiler in den letzten Jahren massiv strapaziert. Nun droht ihnen der ultimative Stresstest.
Seit dem furchtbaren TV-Duell zwischen dem US-Präsidenten Joe Biden und seinem Herausforderer Trump ist eine weitere Amtszeit für Trump ein wahrscheinliches Szenario. Damit steht das das transatlantische Bündnis vor einer noch härteren Belastungsprobe. Auf die Frage von Biden, ob Trump aus der Nato austreten würde, zuckte dieser vor laufender Kamera nur mit den Schultern. Erinnert man sich zudem an Trumps lapidare Äußerung, er würde Russland ermutigen, mit jedem Nato-Land, das nicht genug zahlt, „zu tun, was immer es will“, erscheint der transatlantische Pfeiler perspektivisch ziemlich einsturzgefährdet.
Anders als 2017, als Trump ins Weiße Haus einzog, sind eine engere sicherheitspolitische Anbindung an Paris und das gemeinsame Streben nach europäischer strategischer Autonomie, wie es der französische Präsident Emmanuel Macron seit seiner ersten Sorbonne-Rede gefordert hat, heute noch nicht einmal mehr ein theoretischer Plan B. Sieben Jahre nach seinem ersten Wahlsieg ist der Macronismus in Frankreich gescheitert.
Selbst wenn Le Pen und ihr potenzieller Premierminister Jordan Bardella am Sonntagabend die absolute Mehrheit verfehlen sollten, wäre das wahrscheinlichste Ergebnis ein blockiertes französisches Parlament, in dem keine Regierungsmehrheit für ein Lager möglich ist. Es müsste eine Minderheitsregierung gebildet werden, was zu großer politischer Instabilität und einer eingeschränkten Fähigkeit, Gesetze zu verabschieden, führen würde. Für die nächsten zwölf Monate könnte Macron keine Neuwahlen ausrufen, Frankreich wäre in dieser Zeit paralysiert. Vor allem aber hat die erste Runde der Parlamentswahlen gezeigt, dass ein Wahlsieg Le Pens bei den nächsten französischen Präsidentschaftswahlen eine realistische Option ist.
Die jüngsten Äußerungen Bardellas über die Notwendigkeit des Verbleibs Frankreichs in der Nato und seine Absicht, der Ukraine „die Mittel zur Selbstverteidigung“ zu geben, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, was den RN ausmacht: Kern seiner Ideologie sind französischer Nationalismus, Anti-Amerikanismus und eine tiefe Skepsis gegenüber Brüssel und Berlin.
Was Trump für die Nato ist, ist Le Pen für die EU. Zwar besteht diese nicht nur aus Deutschland und Frankreich. Aber beide Länder haben innerhalb der EU einen weitaus größeren Einfluss als jeder andere Mitgliedstaat. Es gibt kein drittes Land, das auch nur annähernd mithalten kann. Es stimmt zwar, dass ein Kompromiss zwischen Paris und Berlin nicht länger ausreicht, damit sich in der EU etwas bewegt. Aber ohne einen funktionierenden deutsch-französischen Motor kommt auf europäischer Ebene kaum etwas voran.
Ein euroskeptisches Ungarn oder Polen konnte die EU gerade noch verkraften. Ein euroskeptisches Frankreich wäre das Ende des europäischen Integrationsprojekts, wie wir es kennen. Le Pen will die EU nicht länger verlassen. Sie will sie in eine neue, lockerere Union „freier und souveräner Nationen“ verwandeln. Sie möchte die Macht an die nationalen Regierungen zurückgeben und ein Referendum abhalten, um dem französischen Recht Vorrang vor dem EU-Recht zu geben. Ihr Ziel ist strategische Souveränität für Frankreich, nicht für die EU.
Angesichts dieser Situation muss Deutschland drei Dinge priorisieren: erstens die Investitionen in die eigene Sicherheit und Verteidigung, allen voran in eine wehrfähige Bundeswehr. Zweitens die Intensivierung der Kooperation mit gleichgesinnten EU-Mitgliedstaaten (in Fragen der europäischen Sicherheit vor allem mit den Staaten im Norden und Osten Deutschlands), verbunden mit einer größeren Bereitschaft, im Falle einer Blockade der EU auch im Rahmen von Koalitionen der Willigen zu agieren. Und drittens eine Wiederannäherung an das Vereinigte Königreich nach der dortigen Parlamentswahl. Vor allem aber muss in das deutsche Bewusstsein dringen, dass das Fundament der bundesrepublikanischen Außenpolitik porös ist wie nie zuvor.
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