Gastkommentar – Global Challenges: Deutschland muss mehr China-Kompetenz aufbauen

Eine effektive Chinapolitik braucht strategische Empathie. Das ist die Fähigkeit, sich in das Denken eines Rivalen hineinzuversetzen. Es gilt zu erkennen, was Chinas Mächtige antreibt, welche Ideologien und Emotionen ihren Handlungslogiken zugrunde liegen – ohne diese inhaltlich zu teilen.
Gerade wenn China nicht mehr im alten Dreiklang „Partner – Wettbewerber – systemischer Rivale“ verstanden wird, sondern vor allem als systemischer Rivale gilt, ist es strategisch wie politisch essenziell zu wissen, was dessen Führung motiviert.
Dafür ist mehr Chinakompetenz nötig. Während die Volksrepublik Regionalwissenschaften kürzlich zur Disziplin von höchster Wichtigkeit erhoben hat, ist die Zahl der Studienanfänger in chinabezogenen Studiengängen in Deutschland und Europa massiv eingebrochen.
Das ist Expertise, die morgen fehlen wird. Schon heute mangelt es an Dolmetsch- und Übersetzungskompetenz – und der Nachwuchs kommt kaum nach; denn in Deutschland werden aktuell an keiner Universität Dolmetscher in der asiatischen Sprache ausgebildet.
Lange dachte man, das Muttersprachlern überlassen zu können – aber was ist, wenn die Themen sensibel sind und diese Familie in China haben? Dass das Land eine Diktatur ist, hat nicht nur für die jüngste Mobilfunkgeneration 5G Relevanz, sondern auch für die Informationsvermittlung.
Offizielle chinesische Übersetzungen sind nicht neutral
Auch im wissenschaftlichen Dienst des Bundestags gibt es kaum Chinakompetenz. Die Beschaffung von Wissen ist vor allem von persönlichen Netzwerken abhängig, wie das Mercator-Institut für Chinastudien (Merics) in einer Studie im Dezember 2022 feststellte.
Das soll keineswegs die Bemühungen infrage stellen, sich Wissen über die Volksrepublik in der Praxis selbst anzueignen. Doch das ist etwas anderes, als auf Fachleute zurückgreifen zu können, die auch die Sprache beherrschen. Und sollte es nicht genauso selbstverständlich sein, eine Presseschau chinesischer Medien zu wichtigen Ereignissen zu erhalten wie eine aus den USA oder Brüssel?
Weil es an Sprachkompetenz fehlt, bleibt oft nichts anderes übrig, als auf offizielle chinesische Übersetzungen zurückzugreifen. Doch diese sind keine neutralen Übertragungen, sondern Teil des Diskurssystems der Kommunistischen Partei Chinas. Sie zeigen Versionen Chinas, die durch selektive Auswahl und Interpretation der chinesischen Realität entstehen.
Die kommende Bundesregierung muss in den Ausbau strategischer Übersetzungs- und Analysekompetenzen investieren. Erstens braucht es direkten Zugang zu Informationen – Secondhand-Wissen wird diesem Anspruch nicht gerecht. Dafür sind Sprachkenntnisse sicher nicht alles, aber ohne die Sprache geht es nicht.
Schulen, Forschung und Behörden müssen China-Wissen aufbauen
Bundesregierung und Bundestag sollten sich durch die Schaffung neuer Stellen für strategische Chinaanalysten und Trainings für Mitarbeiter und Abgeordnete besser aufstellen.
Gleichzeitig ist China durch Städtepartnerschaften, wirtschaftliche Kooperationen und kulturellen Austausch längst auch auf der lokalen Ebene präsent. Entscheidungen über Projekte wie die Beteiligung Chinas am Hamburger Hafen oder Städtepartnerschaften wie die von Kiel mit Qingdao brauchen ein fundiertes Verständnis für Chinas Strategien – damit keine Abhängigkeiten entstehen, die sich langfristig nachteilig auswirken.
Darüber hinaus sind Investitionen in den systematischen Aufbau der Chinakompetenz in der Breite nötig: von der gezielten Ausbildung strategischer Übersetzer und Dolmetscher über Studiengänge, die Sprach- und Fachausbildung zu China kombinieren, über Chinawissen in den Fachdisziplinen – bis hin zu den Schulen.
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Um die Wissensasymmetrie gegenüber Peking abzubauen, müssen mehr Forschungsinstitute und Stellen geschaffen werden, die sich dezidiert mit Chinas aktueller Innen- und Globalpolitik auf Basis der Auswertung chinesischsprachiger Quellen befassen. Dazu gehört auch das „Dekodieren“ chinesischer Regierungsinteressen und Strategien, vor allem in den Bereichen, die für Deutschland und die EU von strategischer Relevanz sind.
Zum anderen braucht es nach dem angloamerikanischen Vorbild „Revolving Doors“, also Drehtüren, zwischen Hochschulen und Praxis: damit Fachwissen unmittelbar in Ministerien und Behörden ankommt, während Fragestellungen aus der Praxis in die Wissenschaft zurückfließen.


Für die Philosophin Hannah Arendt war Politik der Raum, in dem wir gemeinsam herausfinden, wie wir in dieser Welt zusammenleben können. Die Frage ist also nicht, ob, sondern, wie wir mit China zusammenleben können – auch mit einem China, das nicht demokratisch, sondern ein systemischer Rivale ist.
Die Autorin: Die Sinologin Marina Rudyak forscht an der Universität Heidelberg zur geopolitischen Rolle Chinas mit Fokus auf dem globalen Süden. Ihr neues Buch „Dialog mit dem Drachen“ ist am 17. April im Campus-Verlag erschienen.
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