Gastkommentar – Global Challenges: Was bekommt die EU von Madrid?

Veronika Grimm ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg und Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
Am 1. Juli übernimmt Spanien die EU-Ratspräsidentschaft und kann dann für sechs Monate die Agenda bestimmen, bevor 2024 die Europawahlen stattfinden und dann Ungarn im zweiten Halbjahr die Ratspräsidentschaft übernimmt.
Für Europa steht viel auf dem Spiel. Die Energiekrise hat den Kontinent besonders stark getroffen. Noch immer sind die Energiepreise zu hoch. Unternehmen orientieren sich verstärkt nach Asien oder Nordamerika, wo der „Inflation Reduction Act“ zusätzlich mit Subventionen lockt. Gleichzeitig zwingen geopolitische Veränderungen die Europäer, kritische Abhängigkeiten – etwa von China – rasch abzubauen.
Europa hat sich in der Reaktion auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine bisher geschlossen gezeigt. Es muss gelingen, den Zusammenhalt aufrechtzuerhalten und zu stärken, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des unsicheren Ausgangs der US-Wahlen im Jahr 2024 und der zunehmenden Spannungen zwischen den USA und China.
Investoren sind die grüne Transformation und nachhaltige niedrigere Energiepreise wichtig
Die spanischen Ziele für die Ratspräsidentschaft sind vor diesem Hintergrund zu Recht ambitioniert: die Reindustrialisierung der EU, um strategische Autonomie und Souveränität zu erreichen; Fortschritte bei der grünen Transformation, um die Stromkosten erheblich zu senken; darüber hinaus soziale Gerechtigkeit sowie die Stärkung der Einheit der Europäischen Union.
Die künftige Rolle Europas und der Rückhalt für die demokratischen Kräfte wird davon abhängen, ob wir die Resilienz und die Wachstumskräfte stärken und dabei die soziale Balance erhalten können.
Zu Recht stehen etwa die Vertiefung des Binnenmarktes, die Vollendung der Bankenunion, die Stärkung der Beziehungen zu Lateinamerika über den Abschluss des Mercosur-Abkommens und die Stärkung nachhaltiger Investitionen auf der spanischen Wunschliste.
Mehrere EU-Länder setzen auf Atomkraft
Für die Attraktivität des Standorts bei Investoren ist insbesondere die Beschleunigung der grünen Transformation und die nachhaltige Senkung der Energiepreise entscheidend. Dabei müssen die Mitgliedstaaten an einem Strang ziehen. Das ist einfacher gesagt als getan.
Frankreich etwa setzt – wie auch mehrere osteuropäische Länder sowie Schweden, Finnland und die Niederlande – auf Atomkraft. Doch andere Mitgliedstaaten – allen voran Deutschland – sehen den geplanten Zubau von Kernkraftwerken kritisch.
Gleichzeitig machen Rechtsextremisten, etwa in Frankreich oder Schweden, Stimmung gegen den Ausbau der Erneuerbaren. Der dadurch schleppende Zubau von Erzeugungskapazitäten dürfte insbesondere in Frankreich und seinen Nachbarstaaten die Strompreise auf absehbare Zeit unangenehm hoch halten.
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Deutschland hat seine letzten drei Kernkraftwerke zum 1. April 2023 trotz anhaltend hoher Strompreise endgültig abgeschaltet und plant, das Tempo beim Zubau der erneuerbaren Energien zu vervierfachen. Zudem muss eine Kapazität von zwischen 20 und 30 Gigawatt wasserstofffähiger Gaskraftwerke zugebaut werden, um den Kohleausstieg um 2030 möglich zu machen.
Der benötigte Wasserstoff wird – so der Plan – im Jahr 2030 nur zu etwa einem Drittel in Deutschland produziert. Ein Drittel soll auf dem Seeweg importiert werden, ein Drittel über Pipelines aus Norwegen, aus Spanien und über Italien aus Afrika.
Insbesondere in Spanien besteht großes Interesse, die guten Bedingungen des Landes zur Produktion von erneuerbaren Energien und grünem Wasserstoff zu nutzen. Anfang 2023 wurde vereinbart, die Anbindung der iberischen Halbinsel über die geplante Pipeline H2Med zwischen Barcelona und Marseille nach Deutschland zu verlängern.
Frankreich hat sich dagegen lange gewehrt. Wasserstoff möchte man heimisch aus „billigem Atomstrom“ erzeugen.
Je besser die Kooperation, desto geringer die Stromkosten
Doch dieses Kalkül dürfte in absehbarer Zeit nicht aufgehen. In dem gemeinsamen europäischen Strommarkt hat die Nutzung von Atomstrom zur Produktion von Wasserstoff hohe Opportunitätskosten: die Erlöse am Strommarkt, wo die Preise aufgrund des mittelfristig knappen Angebots hoch bleiben werden.
Alle würden davon profitieren, die beschriebenen Frontstellungen aufzugeben. Man sollte sich gegenseitig beim Ausbau der Stromversorgung entlang der nationalen Transformationspläne unterstützen, sodass durch schneller verfügbare Kapazitäten der Strompreis sinkt.
Und alle sollten den Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur und gemeinsame Wasserstoffimporte möglich machen, sodass die heimische Wasserstoffproduktion in der EU nicht unnötig den Strompreis erhöht.
Je besser die Kooperation gelingt, desto geringer werden auch in jedem einzelnen Mitgliedstaat die Stromkosten sein. Aktuell wird die Absenkung der Strompreise vielerorts über Subventionen versucht. Dadurch werden jedoch die ohnehin in vielen Mitgliedstaaten bereits angespannten Staatsfinanzen weiter belastet.






Deutschland und Frankreich sollten sich gleich zu Beginn der spanischen Ratspräsidentschaft gemeinsam positionieren. Viel Zeit für die ersten Weichenstellungen bleibt vielleicht nicht: Am 23. Juli wird in Spanien neu gewählt.
Die Autorin: Veronika Grimm ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg und Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
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