Gastkommentar – Homo oeconomicus: Die große Transformation lässt sich nicht aus der Portokasse finanzieren
Das gezeichnete Bild ist düster. Fast zeitgleich haben der „Draghi-Bericht“ und eine Studie des Industrieverbands BDI namens „Wake-up Call für Deutschland“ eine Diagnose gestellt, die alles andere als gut ausfällt – es geht um die Wettbewerbsfähigkeit Europas und Deutschlands.
Denn während die Industrie zunehmend von chinesischen Wettbewerbern bedroht wird, ist es zeitgleich nicht gelungen, digitale Geschäftsmodelle in der Breite zu entwickeln. So beschreiben die Experten die derzeitige Lage.
Der von der EU-Kommission in Auftrag gegebene Draghi-Bericht spricht daher von einer existenziellen Herausforderung. Und der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) geht in seinem Fazit sogar darüber hinaus. Deutschland müsse sich als Industrienation neu erfinden, um in Zukunft weiterhin erfolgreich zu sein. Doch wie kann die große Transformation gelingen?
Braucht es mehr staatliche Mittel?
Die Meinungen der Ökonomen gehen auseinander. Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, rät zu weniger Staat und mehr Markt. Regulierungen müssten abgebaut und der Wettbewerb müsse gestärkt werden. Es gehe jedenfalls nicht darum, mehr öffentliches Geld zur Verfügung zu stellen.
Der ehemalige italienische Ministerpräsident und Ex-EZB-Chef Mario Draghi sowie der BDI sehen das anders. Sie plädieren für umfangreiche zusätzliche Mittel. Der BDI fordert explizit ein „Sondervermögen“ für die Transformation. Wer hat recht?
Ein Blick nach China zeigt, dass dort die erfolgreiche Entwicklung von Zukunftstechnologien nicht durch Bürokratieabbau, sondern durch massive staatliche Subventionen vorangetrieben wurde. Dabei hat es die Politik verstanden, frühzeitig die richtigen Leitindustrien zu identifizieren.
Eine Vertiefung des Wettbewerbs im Binnenmarkt gehörte nicht zu den Prioritäten Chinas. Stattdessen wurden zum Beispiel die beiden dortigen Eisenbahnhersteller zu einem schlagkräftigen Weltmarktführer fusioniert. Im Gegensatz dazu hatte die EU die Fusion der Zugsparten von Siemens und Alstom verhindert.
Auch die US-Regierung subventioniert kräftig
Auch in den USA werden Innovatoren in großem Stil mit öffentlichen Mitteln gefördert. So erhielt Tesla in den Jahren 2014/15 rund 2,8 Milliarden Dollar an staatlicher Unterstützung. Mit dem „Inflation Reduction Act“ setzte die US-Regierung massive finanzielle Impulse für Investitionen in erneuerbare Energien.
Die Vorstellung, einen so tiefgreifenden Umbau, wie er Deutschland bevorsteht, aus der Portokasse finanzieren zu können, ist abenteuerlich. Aber sie passt in die Ideologie der Schuldenbremse: Es sei das Beste für die kommenden Generationen, dem Ziel einer konstanten Staatsverschuldung Vorrang vor allem anderen einzuräumen.
Angesichts der vergleichsweise niedrigen deutschen Schuldenquote ist das eine gefährliche Prioritätensetzung. Es ist, wie wenn man bei einem Patienten mit Herzinfarkt und Fußpilz zuerst den Fußpilz behandelt. Deutschland ist ökonomisch ein kranker Mann, dem disruptive Prozesse drohen. Er braucht jetzt die richtige Diagnose und eine wirksame Therapie. Diese ist nicht zum Nulltarif zu haben.