Beyond the obvious: Die neue Scheinattraktivität Europas
Die Mehrheit der Briten würde nach einer aktuellen Umfrage für einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union stimmen. Die Unterstützung der Schweizer für das neue Rahmenabkommen mit der EU dürfte angesichts der Belastung des Landes mit US-Zöllen von 39 Prozent – nur Brasilien, Syrien, Laos und Myanmar müssen noch höhere Zölle hinnehmen – weiter zunehmen. Das sind gute Nachrichten aus Brüsseler Sicht. Die EU bleibt attraktiv, so jedenfalls scheint es.
Doch wer genauer hinschaut, sieht Gründe für die durchaus berechtigte Kritik an der EU und ihren Institutionen. Es sind nicht nur nationalistisch orientierte Parteien und Gruppierungen, die der Union Vorhaltungen machen, auch namhafte Wirtschaftsvertreter tadeln die EU.
So haben in der Schweiz Urs Wietlisbach und Alfred Gantner, beide Mitgründer des Finanzdienstleisters Partners Group, die Organisation Kompass Europa ins Leben gerufen, die sich gegen die Neuauflage des institutionellen Abkommens mit der Europäischen Union (Rahmenabkommen) richtet. Unterstützt wird diese Initiative auch von anderen Vertretern der Schweizer Wirtschaft, so vom ehemaligen Präsidenten der Schweizerischen Bankiervereinigung Pierre Mirabaud.
Wirtschaftliche Entwicklung der EU ist enttäuschend
Die vorgebrachte Kritik ist durchaus relevant. Die EU würde mit ihren Regelungen das Erfolgsmodell und die Standortattraktivität der Schweiz gefährden. Die Übernahme europäischen Rechts würde quasi zu einem Automatismus, und dem Europäischen Gerichtshof käme zu viel Macht zu. Argumente, die auch bei der Brexit-Abstimmung in Großbritannien im Juni 2016 eine große Rolle spielten.
In der Tat ist die wirtschaftliche Entwicklung der EU enttäuschend. Eine verfehlte Energiepolitik, überbordende Bürokratie und der Glaube, nur immer mehr europäische Regulierung würde die EU voranbringen, hat in den vergangenen Jahren erhebliche Wachstumseinbußen gebracht. Der Euro, eigentlich mit dem Ziel gestartet, die Wirtschaft der Mitgliedsländer zu beflügeln, beförderte Verschuldungs- und Immobilienblasen, die in die Euro-Krise mündeten und letztlich über die erforderliche Austeritätspolitik das Wachstum zusätzlich drückten. Die Innovationskraft der Region hat deutlich abgenommen, vor allem was Hochtechnologien betrifft. Hier haben die USA und China nach eingängigen Statistiken die Nase vorn.
Eingeklemmt zwischen Strafzöllen und EU
Im Gegenzug ist es der Schweiz trotz der Tatsache, dass sie inmitten der EU liegt und über die Hälfte des Außenhandels mit der EU stattfindet, gelungen, ihr deutlich höheres BIP pro Kopf zu bewahren. Dies gilt auch, wenn man die Zahlen um die höheren Lebenshaltungskosten und Arbeitszeiten bereinigt. Kein Wunder, dass selbst Vertreter der Schweizer Wirtschaft dies nicht leichtfertig aufs Spiel setzen möchten.
Es wird sich zeigen, ob und wie lange der US-Zollschock den Befürwortern des Rahmenabkommens in der Schweiz Auftrieb verleiht. Bis zur Volksabstimmung, die frühestens 2026 erwartet wird, könnte sich die Meinung drehen und zu einer erneuten Ablehnung und damit Enttäuschung in Brüssel führen.
Dies – wie auch das Brexit-Votum – sollte der EU Anlass genug sein, den eigenen Weg kritisch zu überprüfen. Optimisten hatten gehofft, das Brexit-Votum würde den Anstoß zu überfälligen Reformen geben. Doch das Gegenteil war der Fall. Man konzentrierte sich in Brüssel darauf, den Brexit möglichst teuer und kompliziert zu machen, um Großbritannien für das Votum zu bestrafen, wie es der damalige luxemburgische Finanzminister Pierre Gramegna 2018 formulierte.
Besser wäre es, eine EU zu gestalten, die deutlicher als bisher die Mehrung des Wohlstands der Mitgliedsländer in den Vordergrund stellt. Dabei kann die EU natürlich nicht wie die Schweiz werden, aber dennoch von ihr lernen. Weniger Zentralisierung, mehr Wettbewerb, deutlich geringere Regulierungstiefe und – auch das ist wichtig – keine Schuldensozialisierung.
Die Zukunft Europas entscheidet sich an seiner Fähigkeit zur Erneuerung – und am Umgang mit kritischem Feedback von außen. Die Erfahrungen aus Großbritannien und der Schweiz zeigen: Die EU muss attraktiver, flexibler und bescheidener werden.