Beyond the obvious: Liberalismus am Abgrund – der Westen verliert die Deutungshoheit

Die Erwartung, der Liberalismus wäre ein erfolgreiches Exportgut in der globalisierten Welt und damit sei das „Ende der Geschichte“ erreicht, wie es der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama im Sommer 1989 formulierte, wurde enttäuscht. Stattdessen scheint die Dominanz des Westens und seiner liberalen Werte im Zeitalter der multipolaren Welt zu erodieren: China, Russland und andere BRICS-Staaten folgen eigenen Entwicklungspfaden, die oft explizit antiliberal sind und auf tief verwurzelte kulturelle und zivilisatorische Normen zurückgreifen.
Nehmen wir China als Beispiel. Bereits im Jahr 1991 beschrieb der chinesische Politikwissenschaftler Wang Huning in seinem Buch „America against America“ die zunehmenden Spannungen in der amerikanischen Gesellschaft. Er stellte fest, dass das „amerikanische System, das im Allgemeinen auf Individualismus, Hedonismus und Demokratie basiert, gegenüber einem System des Kollektivismus, der Selbstvergessenheit und des Autoritarismus eindeutig den Kürzeren zieht“. Seine Schlussfolgerung: Die USA sind kein Vorbild für China. Als einer der engsten Berater von Präsident Xi hat Wangs Wort erhebliches Gewicht.
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Es ist nicht so, dass man bei der Lektüre des Buchs eine einseitige Darstellung sieht, im Gegenteil: Wang erkannte die Schwächen des amerikanischen Systems, ohne zu übertreiben, wie der „Economist“ feststellte. Viele Entwicklungen in den USA bis hin zur Wahl Donald Trumps wirken nicht so überraschend, wenn man Wangs Analyse liest. Es ist bezeichnend, dass das Buch im Westen erst Jahrzehnte später veröffentlicht wurde.
Es ist unstrittig, dass wir uns in einem Systemwettbewerb befinden. Die BRICS-Staaten haben schon jetzt ein größeres ökonomisches Gewicht als der Westen. Auch militärisch sind sie ernst zu nehmen. Wollen wir den Systemwettbewerb bestehen und zugleich unsere Gesellschaftsordnung bewahren, müssen wir im Westen Selbstkritik üben, alte Gewissheiten hinterfragen und nach tragfähigen Lösungen suchen. Die Ansprüche des liberalen Paradigmas – offene Märkte, Wettbewerb als Ziel an sich, Verhinderung jeglicher Ungleichbehandlung und maximaler Minderheitenschutz – sind im globalen Kontext überzogen und kaum durchsetzbar.
Die Deindustrialisierung, der Verlust an Innovationsführerschaft, die Abkehr vom Leistungsprinzip, die demografischen Herausforderungen aus Überalterung und Migration und damit die Zersetzung der sozialen Fundamente sind die Folgen einer Politik, die verkennt, dass die liberale Ordnung nur dann funktionieren kann, wenn die Säulen von Wirtschaft und Gesellschaft tragen.
Folgt man Kritikern wie dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Patrick Deneen, der in seinem Buch „Why Liberalism Failed“ argumentiert, dass die Prinzipien des Liberalismus zu gesellschaftlicher Fragmentierung und der Erosion gesellschaftlicher Bindungen geführt haben, bedarf es einer Rückbesinnung auf vorliberale zivilisatorische Traditionen – nicht als Rückschritt, sondern als pragmatische Antwort auf die neue Konkurrenz und die eigenen systemischen Schwächen.
Während dies in den USA bereits seit Jahren intensiv diskutiert wird, ist eine ähnliche Diskussion in Deutschland überfällig. Konkret haben wir es mit zwei Herausforderungen zu tun. Zum einen mit der Umkehr von Fehlentwicklungen, wie beispielsweise dem Niedergang des Bildungswesens – jüngstes Beispiel ist die Abschaffung von Tests in Schulen in Rheinland-Pfalz, weil diese die Schüler „stressen“ würden –, aber auch dem offensichtlichen Versagen des Staates bei seinen Kernaufgaben von Infrastruktur bis Verteidigung.
Der Sozialstaat muss auf den Prüfstand






Zum anderen mit der Schaffung der Voraussetzungen, um im Systemwettbewerb überhaupt eine Chance zu haben. Letzteres bedingt die absolute Priorisierung der wirtschaftlichen und technologischen Wettbewerbsfähigkeit. Reindustrialisierung, Aufwertung der MINT-Fächer und deutlich höhere Ausgaben für Forschung und Entwicklung gehören damit auf die Agenda. Umgekehrt müssen der Sozialstaat und der Wildwuchs politischer Wunschprojekte auf den Prüfstand. Ebenso die Klima- und Energiepolitik.
Die USA befinden sich offen im systemischen Wettbewerb mit China, was sich auch nach der Ära Trump nicht ändern wird. Dabei verfolgen sie eine Politik des „America first“, woran sich ebenfalls nach der Ära Trump nichts ändern dürfte. Deutschland und der EU bleibt nichts anderes, als diesen Wettbewerb anzunehmen. Je eher unsere Politik das versteht und akzeptiert, desto besser werden die Zukunftschancen für Europa sein.
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