EU-Kolumne: Einmal kleiner Bruder, immer kleiner Bruder: Wie Deutschland Europa verzwergt

Es gibt kein moralisches Zentrum in Europa, die europäischen Staaten handeln nur unter amerikanischer Führung.
Joe Biden redete sich in Rage. „Es gibt kein moralisches Zentrum in Europa“, donnerte er, während er zwischen den Sitzreihen des US-Senats auf und ab tigerte. Ohne das Eingreifen der Vereinigten Staaten werde sich „der Völkermord wie ein Krebsgeschwür verbreiten“.
Fast 30 Jahre sind seit diesem Auftritt vergangen, um den Krieg auf dem Balkan ging es in Washington damals – und die Unfähigkeit der Europäer, dem Blutvergießen auf ihrem Kontinent Einhalt zu gebieten.
Vieles ist seither geschehen. Biden war Vizepräsident unter Barack Obama, dann Polit-Rentner. Jetzt, mit inzwischen 80 Jahren, steht er selbst an der Spitze der US-Regierung. Das Haar des Präsidenten ist dünner und grauer geworden, die Wörter sprudeln nicht mehr so wie einst aus ihm heraus.
Doch Bidens Einschätzung vom 13. Dezember 1995 gilt noch immer: Es gibt kein moralisches Zentrum in Europa, die europäischen Staaten handeln nur unter amerikanischer Führung.
Der Balkankrieg hat daran nichts geändert – und auch der Schock über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine reicht offenbar nicht aus, um ein außenpolitisch vereintes, handlungsfähiges Europa zu schaffen. Die Zeitenwende findet ihre Grenzen dort, wo es brenzlig wird.
Das deutsche Taktieren trifft vor allem in Ost- und Nordeuropa auf wenig Verständnis
Das gilt gerade für Bundeskanzler Olaf Scholz, der seit Tagen die Entscheidung über die Lieferung von Leopard-2-Panzern an die Ukrainer verzögert. Nur mit den Amerikanern – so hätte Scholz es am liebsten.
Dass es militärisch wenig Sinn ergibt, den US-Kampfpanzer Abrams, einen wartungsanfälligen Spritfresser, in die Ukraine zu verschiffen, spielt für das Kanzleramt nur eine untergeordnete Rolle. Scholz sieht die Abrams als eine Art Rückversicherung. Einmal kleiner Bruder, immer kleiner Bruder.
Das deutsche Taktieren trifft vor allem in Ost- und Nordeuropa auf wenig Verständnis – in Russlands unmittelbarer Nachbarschaft, wo man im Falle einer Zerschlagung der Ukraine fürchtet, Ziel des nächsten russischen Überfalls zu werden. Und auch die US-Regierung ist verärgert, weil sie schon jetzt deutlich mehr liefert als die Europäer und sich dafür im Kongress rechtfertigen muss.
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Zugegeben: Scholz steht vor Entscheidungen, deren Tragweite kaum größer sein könnte. Mehrfach hat er die Sorge formuliert, dass Russland Kernwaffen einsetzen könnte. Das Eskalationsrisiko ist real, zumindest ist es nicht gleich null. Das sehen übrigens auch die Amerikaner so, die genau aus diesem Grund der Ukraine Angriffsdrohnen, Mittelstreckenraketen und Kampfflugzeuge vorenthalten.

Der Autor: Jede Woche analysiert Moritz Koch, Leiter des Handelsblatt-Büros in Brüssel, im Wechsel mit anderen Brüsseler Korrespondenten in der EU-Kolumne Trends und Konflikte, Regulierungsvorhaben und Strategiekonzepte aus dem Innenleben der Europäischen Union. Denn wer sich für Wirtschaft interessiert, muss wissen, was in Brüssel läuft. Sie erreichen ihn unter: koch@handelsblatt.com
Allerdings hat Deutschland schon Panzer zugesagt: Der Flakpanzer Gepard etwa ist in der Ukraine im Einsatz, die Panzerhaubitze 2000 ebenso. Der Schützenpanzer Marder wird im März folgen.
Warum der Leopard 2 eine völlig neue Qualität darstellen könnte, erläutert der Kanzler nicht – und leistet in Brüssel damit Spekulationen Vorschub, er ziehe ein Patt einer erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensive vor.






Auch der Versuch, hinter den USA in Deckung zu gehen, dürfte Folgen haben. Europas größte Wirtschaftsmacht signalisiert damit, dass sie lieber mitlaufen als führen will. Das ist legitim, aber es bedeutet: Bye-bye, europäische Souveränität.
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