Europa-Kolumne: Ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen würde deplatziert wirken
Christoph Herwartz, Korrespondent im Handelsblatt-Büro in Brüssel, analysiert Trends und Konflikte, Regulierungsvorhaben und Strategiekonzepte aus dem Innenleben der EU. Denn wer sich für Wirtschaft interessiert, muss wissen, was in Brüssel läuft. Sie erreichen ihn unter: herwartz@handelsblatt.com
Foto: HandelsblattUm die Folgen der Coronapandemie zu bewältigen, nimmt die EU Hunderte Milliarden Euro an Schulden auf und verteilt sie auf die Mitgliedstaaten. Zwei Staaten warten allerdings noch auf dieses Geld: Polen und Ungarn. Sie spielen im Ukrainekrieg eine besondere Rolle.
Formal hat der Einmarsch Russlands nichts mit diesen Hilfsgeldern zu tun. Trotzdem wird sehr genau darauf geachtet, wie die Kommission in dieser heiklen Situation vorgeht.
Noch vor wenigen Wochen war Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki der Bad Boy unter den europäischen Regierungschefs. Nun ist er derjenige, der anderen hilft und Risiken eingeht.
Das beschränkt sich nicht nur auf die Hilfe für Geflüchtete. Die Polen haben sogar angeboten, ihre Kampfflugzeuge für die Verteidigung der Ukraine zur Verfügung zu stellen. Morawiecki reiste mit anderen persönlich in das belagerte Kiew und will trotz der eigenen Abhängigkeit eine Blockade des kompletten Handels mit Russlands.
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Auch Ungarn spielt eine besondere Rolle, weil die Regierung in Budapest in der Vergangenheit so russlandfreundlich war wie keine andere. Viktor Orban suchte noch kurz vor dem Krieg die Nähe zu Wladimir Putin. Bisher aber stimmte Ungarn allen Sanktionen gegen Russland zu. Gleichzeitig stehen in Ungarn Wahlen an. Orban muss fürchten, am 3. April seine Mehrheit zu verlieren.
Bewegung bei der polnischen Regierung
Wie wird die Kommission in dieser Situation vorgehen? Sie muss sich bei der Vergabe der Corona-Hilfsgelder an die Vorgaben halten. Aber sie hat auch viel Spielraum dabei, Anträge entweder zu bewilligen oder noch lange zu prüfen.
In der Krise wird vieles neu bewertet: ob es die ökologischere Landwirtschaft ist, der Atomausstieg in Belgien oder der Kohleausstieg in Deutschland. Gilt das auch für die Verteidigung des Rechtsstaats?
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Dass in Ungarn vor der Wahl noch etwas passiert, ist unwahrscheinlich. Zumal keine Fortschritte zu erkennen sind, was das Korruptionsproblem dort angeht. In Polen aber ist der Druck jetzt groß, die Hilfsgelder freizugeben. Andere Staaten arbeiten schon seit Monaten mit dem Geld und erhalten gerade die zweite Tranche. Polen aber sollte zuerst die Disziplinarkammer abschaffen, die über die Arbeit der Richter wacht.
Morawiecki hatte im Januar eingelenkt, noch ist das entsprechende Gesetz aber nicht verabschiedet. Sobald es die nächste Hürde nimmt, könnte die Kommission die ersten Milliarden überweisen, wird in Brüssel spekuliert.
Die Parteien und NGOs, die sich für die polnische Justiz einsetzen, werden dagegen protestieren. Aber sie dürften deutlich weniger Gehör finden als zuletzt.
Was sie fordern, ist das Gegenteil von finanzieller Unterstützung: ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen, das zur Folge haben könnte, dass auch Gelder aus dem normalen EU-Haushalt eingefroren werden.
Auch während des Ukrainekriegs nimmt die polnische Demokratie mit jedem Tag Schaden, an dem die Justiz nicht frei arbeiten kann. Und trotzdem ist allen klar: Ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen würde derzeit deplatziert wirken.