Globale Trends: Wie Europa wegen strenger Schutzvorschriften zurückbleibt

Die Pläne des VW-Konzerns, bis zu drei Werke in Deutschland zu schließen, Tausende Arbeitsplätze abzubauen und Vergütungen zu kürzen, haben Deutschland geschockt. Die Betriebsräte drohen mit Streik, Bundeskanzler Olaf Scholz nimmt die Konzernführung in die Pflicht und will verhindern, dass „falsche Managemententscheidungen“ zulasten der Beschäftigten gehen.
So weit, so deutsch. Was aber, wenn die VW-Krise uns nicht nur etwas über den Industriestandort Deutschland, sondern auch viel über den Rückstand erzählt, den Deutschland und Europa im weltweiten Technologierennen gegenüber den USA haben?
Für den in Frankreich geborenen Tech-Unternehmer Olivier Coste zeigt der Fall Volkswagen exemplarisch, wie hohe Restrukturierungskosten zur Innovationsbremse werden können.
„Deutschland ist von diesem Problem besonders betroffen, da die Kosten eines Scheiterns höher sind als irgendwo sonst in Europa und weil seine Industrie besonders anfällig für technologische Umbrüche ist“, erläutert der Entrepreneur, der früher unter anderem in leitenden Positionen für Alcatel, Siemens, Microsoft und Meta gearbeitet hat.
Draghi-Report warnt vor Agonie Europas
Dass er mit seiner Meinung nicht allein steht, zeigt der sogenannte „Draghi-Report“, in dem der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi kürzlich Schwächen der europäischen Wettbewerbsfähigkeit aufgedeckt hat. „EU-Unternehmen haben im Vergleich zu ihren US-amerikanischen Konkurrenten mit höheren Umstrukturierungskosten zu kämpfen, was sie in hochinnovativen Sektoren, die durch die Dynamik „winner takes it all“ gekennzeichnet sind, in eine äußerst nachteilige Position bringt“, analysiert der Italiener in seinem Bericht.
Der Nachteil trifft nicht nur große Konzerne wie Volkswagen und SAP, die sich im Vergleich zu ihren amerikanischen Konkurrenten viel langsamer Marktveränderungen anpassen können, weil sie mit einer Vielzahl von Schutzvorschriften und höheren Kosten konfrontiert werden. Draghi spricht von einer „langsamen Agonie“ Europas.
Hohe Restrukturierungskosten im Fall eines Scheiterns verhindern demnach auch, dass Risikokapitalgesellschaften in europäische Tech-Start-ups investieren.
„Strenge Kündigungsschutzgesetze stehen in signifikantem Zusammenhang mit einer geringeren Fähigkeit innovativer Unternehmen, die ergänzenden materiellen Ressourcen anzuziehen, die für die Umsetzung und Vermarktung neuer Ideen erforderlich sind“, stellte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bereits 2015 fest – und warnte, dass die Last dieses Effekts unverhältnismäßig stark auf junge Unternehmen falle, die eher mit radikalen Innovationen experimentierten.
Angesichts von Erfahrungswerten, nach denen im Technologiesektor vier von fünf Start-ups scheitern können, sind die damit verbundenen Kosten ein wichtiger Faktor für die Kalkulation der Risikokapitalgeber.
Coste kommt zu dem Ergebnis, dass die interne Rendite (IRR) für Venture-Capital-Fonds in Europa durch potenzielle Restrukturierungskosten um bis zu vier Prozent niedriger ausfallen könnten als bei vergleichbaren Investments in den USA. Die Folge: Die Investitionen der Fonds seien in Amerika etwa dreimal höher als in der EU und Großbritannien zusammen.
Flexibler Kündigungsschutz
Was tun? Dass Europa sein Sozialmodell opfert und zu einer „Hire and fire“-Kultur wie in Amerika übergeht, ist weder wahrscheinlich noch wünschenswert. Jobsicherheit schafft Arbeitszufriedenheit und kann so ein Motor für höhere Produktivität sein.
Auf der anderen Seite kann Europa die Kollateralschäden bestehender Schutzvorschriften nicht einfach ignorieren, will es verhindern, dass es im globalen Wettbewerb weiter zurückfällt und so langfristig auch sein Sozialmodell gefährdet.
Der französische Tech-Unternehmer schlägt vor, den Kündigungsschutz stärker nach Gehalt und Ausbildung zu differenzieren. Wer viel verdient und exzellent ausgebildet sei, finde in der Regel schneller einen neuen Job als jene, auf die das nicht zutreffe. Er nennt das „Flexicurity“.
Der Vorschlag klingt vernünftig, hat aber ein paar Haken: Während unterschiedliche Absicherungen je nach Höhe des Gehalts schon heute nicht ungewöhnlich sind, wirft eine Differenzierung des Kündigungsschutzes nach der Ausbildung nicht nur rechtliche Fragen auf. Bedenken muss man dabei auch negative Anreizeffekte.




Entscheidend ist jedoch, dass die Europäer ohne Denkverbote ihre Nachteile im internationalen Wettbewerb analysieren und genauso offen darüber diskutieren, welche Anpassungen notwendig sind, um ihren Wohlstand zu schützen.
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