Gastkommentar – Homo oeconomicus: Die gefährliche Geschichtsverdrehung des Hans-Werner Sinn

Philipp Heimberger ist Ökonom am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW).
Mit Hans-Werner Sinn befeuert einer der einflussreichsten deutschen Ökonomen in der Diskussion um die finanzielle Bewältigung der Coronakrise ein hartnäckiges deutsches Missverständnis: In einem Interview mit der „NZZ“ verbindet er die Tatsache, dass die Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik den deutschen Mittelstand verarmen ließ, mit der scheinbaren Folge: „Zehn Jahre später haben sie Adolf Hitler zum Reichskanzler gewählt.“
Sinn nährt eine verbreitete Fehlinterpretation der Wirtschaftsgeschichte. Die Massenarmut zum Zeitpunkt der Machtergreifung der Nazis im Jahr 1933 resultierte nicht aus der Hyperinflation, deren Ende damals tatsächlich schon zehn Jahre zurücklag; sie war vor allem eine Folge der Massenarbeitslosigkeit durch die tiefe Rezession in den Dreißigerjahren.
Die Nationalsozialisten waren nach Jahren der Deflation – also sinkenden Preisen – an die Macht gekommen, wie aktuelle wirtschaftshistorische Forschung bestätigt.
Reichskanzler Brüning erwirkte ab 1930 mit Notfalldekreten Steuererhöhungen und drastische staatliche Ausgabenkürzungen, die das soziale Sicherungsnetz durchlöcherten. Die Austeritätspolitik erhöhte die Arbeitslosigkeit, verschlimmerte das soziale Leid und trug zu politischen Unruhen bei. Hitler erkannte spätestens Ende des Jahres 1931, dass Brünings Sparpolitik seiner Partei „zum Sieg verhelfen und somit die Illusionen des gegenwärtigen Systems beenden“ werde.
Die Analyse von Daten aus vier Wahlen zwischen 1930 und 1933 zeigt tatsächlich, dass Wählerinnen und Wähler in Gebieten, die stärker von den Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen betroffen waren, den Nationalsozialisten deutlich mehr Stimmen gaben und so Hitler zum Sieg verhalfen.
Sinn vermischt Armut mit der Hyperinflation
Hans-Werner Sinn fordert mit Rückgriff auf seine Fehlinterpretation der Wirtschaftsgeschichte, es brauche nach Corona „engere Budgetbeschränkungen“, um Hyperinflation zu verhindern. Dass Sinn einem raschen Schwenk zur Sparpolitik das Wort redet, um nach Corona einen Rechtsruck zu verhindern, ist angesichts der direkten Verbindung zwischen den negativen Auswirkungen der Austeritätspolitik Anfang der Dreißigerjahre und der Machtergreifung der Nationalsozialisten eine gefährliche Verdrehung.





Eine repräsentative Umfrage von Haffert, Redeker und Rommel zeigt, dass nur einer von 25 Deutschen heute noch weiß, dass die damalige Krise durch Deflation geprägt war. Fast die Hälfte der Befragten vermischt – wie Hans-Werner Sinn – die Massenarbeitslosigkeit und Armut der frühen Dreißigerjahre mit der Hyperinflation zehn Jahre vorher. Diese Fehlvorstellung ist bei gut gebildeten und politisch interessierten Deutschen übrigens wesentlich häufiger vorhanden.
Falsche Interpretationen der Geschichte können folgenschwer sein, wenn sie die Wirtschaftspolitik auf das falsche Gleis führen. Um das zu verhindern, dürfen prominente Ökonomen nicht unwidersprochen bleiben, wenn sie derartige gefährliche Missverständnisse befeuern.
Der Autor Philipp Heimberger ist Ökonom am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche und am Institut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft, Linz.
Mehr: Lesen Sie hier ein Interview mit Hans-Werner Sinn im Handelsblatt: „Die Politik verliert das Maß“





