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Kolumne GeoeconomicsDie Kluft zwischen Deutschland und Osteuropa wächst – das ist ein Alarmsignal

Das Unverständnis in Mittel- und Osteuropa gegenüber der politischen Linie in Berlin nimmt zu. Die Bundesregierung sollte ihre Strategie überdenken – und sie besser erklären.Jana Puglierin 23.12.2022 - 10:07 Uhr Artikel anhören

Dr. Jana Puglierin ist Head of Office and Senior Policy Fellow am European Council on Foreign Relations (ECFR).

Foto: Handelsblatt

„Schönheit liegt im Auge des Betrachters“, soll der griechische Historiker Thukydides gesagt haben. Ähnlich verhält es sich mit der Bilanz der deutschen Reaktion auf die „Zeitenwende“, fast zehn Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Je weiter man sich von Berlin in Richtung Warschau, Prag, Vilnius oder Riga entfernt, desto mehr fallen Selbst- und Fremdwahrnehmung auseinander.

In Berlin erzählen Vertreter der Ampelkoalition zum Jahresende gern eine Erfolgsgeschichte, die ungefähr so klingt: Nach nicht einmal drei Monaten im Amt ist die neue Regierung vom Kriegsausbruch brutal überrascht worden. Quasi über Nacht hat sie daraufhin eine Revolution in der deutschen Russland-, Sicherheits- und Energiepolitik eingeleitet. Sie hat Entscheidungen getroffen, die zuvor undenkbar gewesen sind.

Heute zählt Deutschland zu den stärksten Unterstützern der Ukraine – finanziell, humanitär und auch militärisch. Die Ampel hat zudem ein 100 Milliarden Euro schweres Sondervermögen geschaffen, mit dessen Hilfe die Bundeswehr zu einer der schlagkräftigsten Armeen Europas transformiert werden soll.

Dazu kommt die mit Hochdruck vorangetriebene Energiewende, weg von fossilen Brennstoffen aus Russland. Nimmt man das alles zusammen, hat man im ersten Jahr der Koalition „ziemlich viel hingekriegt“, wie Olaf Scholz jüngst resümierte.

Wer in diesen Tagen hingegen in Mittel- und Osteuropa unterwegs ist, hört weniger Positives. Nachdem die Ankündigungen aus Scholz’ Zeitenwende-Rede anfangs euphorisch begrüßt worden sind, zweifelt man zunehmend an der Ernsthaftigkeit des deutschen Sinneswandels.

Für Polen und Balten hat der 24. Februar keine „Zeitenwende“ eingeläutet, sondern Moskau hat den Krieg bereits 2014 begonnen – die Deutschen haben Putins Absichten nur konstant falsch eingeschätzt. Bis heute herrscht in der Region der Eindruck, dass Berlin immer noch nicht verstanden hat, wie Moskau tatsächlich „tickt“ – und was für die Region auf dem Spiel steht.

Die gerade im Kanzleramt verbreitete Auffassung, dass die Gefahr einer weiteren Eskalation des Kriegs in der Ukraine angesichts der militärischen Misserfolge Russlands steigt, wird in Riga oder Warschau genau andersherum gesehen. Dort glaubt man, dass Russland in der Ukraine vernichtend geschlagen werden muss, weil das Baltikum oder Polen sonst Putins nächste Ziele sind.

Bis heute herrscht in Mittel- und Osteuropa der Eindruck, dass Berlin immer noch nicht verstanden hat, wie Moskau tatsächlich „tickt“ – und was für die Region auf dem Spiel steht.

Foto: Reuters

Dass Berlin bei den Waffenlieferungen an die Ukraine mit angezogener Handbremse agiert, indem es beispielsweise keine Schützen- oder Kampfpanzer liefert, wird daher als mangelnde Unterstützung nicht nur von Kiew gewertet. Scholz’ wiederholte Telefonate mit Putin und die Tatsache, dass der Kanzler die Wiederaufnahme ökonomischer Kooperation in Aussicht stellt, und sei es in ferner Zukunft, trägt zu der Einschätzung bei, dass zumindest das Kanzleramt den Schuss noch immer nicht gehört hat.

Mit großem Unverständnis nehmen die Entscheidungsträger in den Hauptstädten der Nato-Ostflanke zudem wahr, dass Deutschland zwar im Rekordtempo ein LNG-Terminal bauen kann, aber bei den Beschaffungsvorhaben für die Bundeswehr jede Menge Zeit ins Land gehen lässt, bevor Aufträge an die Industrie vergeben werden. Das verpasste Zwei-Prozent-Ziel in diesem und im nächsten Jahr erzeugt besonders in Warschau ratloses Kopfschütteln, wo die Modernisierung der eigenen Streitkräfte auf Hochtouren läuft.

Enttäuschung über Deutschland ist auch in der polnischen Opposition weitverbreitet

Wenn Deutschland wirklich „ein Garant europäischer Sicherheit“ (Olaf Scholz) oder eine europäische Führungsmacht „auch im Militärischen“ (Christine Lambrecht) werden will, muss Berlin anerkennen, dass es in Mittel- und Osteuropa misstrauisch beäugt wird, und sich stärker um diese Region bemühen. Vor allem muss die Bundesregierung ihre Politik besser erklären.

>> Lesen Sie hier: Gasstreit, Revolten und zu fettige Süßigkeiten – Die vier Phasen von Russlands langem Wirtschaftskrieg gegen die Ukraine

In Berlin wird allerdings manchmal so getan, als sei die Kritik in erster Linie das Ergebnis der skrupellosen Propaganda der polnischen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“, die das systematische Schlechtreden Deutschlands seit Jahren kultiviert. Tatsächlich lässt die „PiS“ keine Gelegenheit aus, sich medienwirksam gegen Berlin in Stellung zu bringen, auch um ihre Chancen im aktuellen polnischen Wahlkampf zu erhöhen.

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Aber die Enttäuschung über Deutschland ist auch in der polnischen Opposition weitverbreitet. Die Fehler der deutschen Russlandpolitik der vergangenen 25 Jahre, über die der amtierende Bundeskanzler wie auch seine Vorgängerin gern salopp hinweggehen, sind dort wie auch in Riga, Tallinn oder Vilnius noch immer allgegenwärtig. Eine ehrliche Aufarbeitung wäre ein wichtiger Schritt, um der deutschen Zeitenwende mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Mehr: Wut auf „Germany first“ – Wie der Bundeskanzler Deutschland in Europa isoliert

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