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Kolumne „Kreative Zerstörung“Wer nicht ins Bild passt, wird gelöscht

Überfüllte Strände und Touri-Spots einfach wegretuschieren: Mit dieser Funktion lockt Apple – nur in Deutschland nicht. Ein Grund zum Neid? Miriam Meckel findet nicht.Meckel Miriam 25.03.2025 - 19:56 Uhr Artikel anhören
In dieser Kolumne schreibt Miriam Meckel 14-täglich über Ideen, Innovationen und Interpretationen, die Fortschritt und ein besseres Leben möglich machen. Foto: Klawe Rzeczy

Kürzlich hatte ich die Möglichkeit, eines der neuen sieben Unesco-Weltwunder zu besichtigen. Chitchén Itzá, die Maya-Ruinenstätte auf der Halbinsel Yucatan in Mexiko. Über Hunderte von Jahren, beginnend um 500 n. Chr., sind die beeindruckenden Bauten entstanden, darunter auch „El Castillo“, die Stufenpyramide. Ein imposantes Werk der Kulturgeschichte.

Die Mayas haben sie so gebaut, dass man im Äquinoktium, der Tagesundnachtgleiche, die optische Illusion einer Schlange erkennen kann, die sich langsam die Pyramide herunterwälzt. Vor allem aber ist „El Castillo“ ein Fotomotiv. Keines meiner Fotos zeigte nur die Stufenpyramide – in jedem Bild waren Hunderte von Touristen, meist in weißen Socken und Sandalen, zu sehen.

Bis ich entdeckte, dass „Apple Intelligence“ in Mexiko funktioniert. In einer kleinen Nachtsitzung ließen sich mit wenigen Fingerbewegungen alle anderen Menschen außer mir aus den Fotos retuschieren. Man muss nur den kleinen Radiergummi antippen, „clean up“ genannt, und schon bietet Apples AI einem die Objekte an, die besser nicht mehr im Foto zu sehen sein sollten. Menschen wohlgemerkt.

Nach meiner Landung in Deutschland war die Anwendung nicht mehr verfügbar. Wohin mit all den schrecklichen Gestalten, die meine Fotos versauen? Nach der KI-Bearbeitung war ich allein auf den Spuren der Mayas, schwamm allein in der unterirdischen Cenote. Ich bin nicht Teil der Masse, sondern habe individuellen Zugang zu dem Weltwunder. Diese Fotos stehen für Exklusivität. Das Bauwerk und ich – ein beachtlicher Ausdruck meines ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals, wie Pierre Bourdieu es vermutlich interpretiert hätte.

Als Apple im vergangenen Oktober Apple Intelligence auf den Markt brachte, guckten wir in Europa in die Röhre. „Regulatorische Unsicherheiten“ seien dafür verantwortlich, dass man den Dienst derzeit nicht in der EU anbieten könne, ließ Apple verlauten. Die „regulatorischen Unsicherheiten“ sind der Digital Markets Act (DMA), der schlicht von allen Tech-Unternehmen, die in der EU tätig sein wollen, verlangt, dass sie einem wichtigen Prinzip gerecht werden – der Interoperabilität.

Regulierung als Innovationstreiber

Dabei geht es letztlich um die Interessen der Kundinnen und Kunden, denen es möglich gemacht werden soll, auch andere Technologien mit denen von Apple zu nutzen. Apple hielt dagegen, die Regelung kompromittiere die Integrität seiner Produkte. Vor allem kompromittiert sie die bequeme Situation, dass Nutzer auf ewig in den schicken umzäunten Gärten des iPhone-Konzerns gefangen und von dessen Preisgestaltung abhängig sind.

Gegen Ende April soll „Apple Intelligence“ nun doch in der EU verfügbar sein. Was sich inzwischen verändert hat, ist unklar. Klar ist hingegen, dass die EU als Markt mit fast 450 Millionen Menschen auch für Apple interessant ist.

Es hat eine Menge Reibung gegeben zwischen den Tech-Konzernen und der EU. Die naheliegende Interpretation war mal wieder: Regulierung stört und killt Innovation. Vielleicht ist es doch Zeit, noch mal neu darüber nachzudenken.

Regulierung soll ja gerade Reibung oder Friktion erzeugen. Denn nur mit Friktion sind wir überlebensfähig. Keine Hose bliebe ohne Friktion am Körper, keine Bremse brächte ein Auto zum Stehen. Ohne Friktion hielte kein Knoten, es gäbe keine Stahlindustrie, und die gesamte physische Welt würde an ihrem niedrigsten Punkt zusammenrutschen. Friktion, das ist auch die Diskrepanz zwischen dem technisch Möglichen und einer gesellschaftlich erwünschten Zukunft. Die sollten wir aushalten können.

Aber ebendiese notwendige Befähigung, sich mit Widerständen auseinanderzusetzen, geht verloren. Dafür steht das „Clean up“-Feature in der Apple Intelligence. Ich retuschiere mir die Welt, wie sie mir gefällt. Erst war es der Sozialneid auf Facebook, weil andere immer die schöneren Reisen machten, dann kam das Instagram-Face. Es führt inzwischen tatsächlich dazu, dass die Gesichter junger Frauen wie an einem niedrigeren Punkt der reibungslosen Schönheitsideale zusammengerutscht sind. Und jetzt löschen wir die Menschen einfach ganz.

Man kann das auch als Metapher für die derzeitige rückwärtsgewandte Kulturrevolution in den USA sehen. Wer nicht ins Bild passt, wird gelöscht – über verbotene Worte, gekürzte Gelder und ausgewiesene Menschen.

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Ganz ehrlich: Ich würde lieber auf Apple Intelligence verzichten als darauf, dass wir in Europa in der Lage sind, bewusst mit Friktion umzugehen. Wenn ich gerade in die Welt schaue, dann beschleicht mich das Gefühl, wir haben das Äquinoktium der Zivilisationsgeschichte erreicht. Licht und Finsternis stehen sich wieder ebenbürtig gegenüber. Und wenn man genau hinschaut, wälzt sich eine Schlange auf uns herab, die sich mit keiner KI löschen lässt.

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