USA: Freedom of Speech – oder die Angst vor dem offenen Wort
Die USA sind laut. Überall wird geredet, gestritten, gepostet, kommentiert. Doch sobald es um Politik geht, herrscht Stille. Ich erlebe das täglich. In meinem Umfeld in Newport Beach – Nachbarn, Bekannte, Eltern von Schulfreunden – spricht man über Sport, das Wetter oder neue Restaurants. Aber kaum jemand wagt ein offenes Wort über das, was das Land spaltet.
Es ist, als hätte man sich auf ein stilles Abkommen geeinigt: Wir reden über alles, nur nicht über Politik. Ich sehe darin ein Symptom einer tiefer liegenden Angst. Die Angst, anzuecken, Freunde zu verlieren oder im eigenen Viertel als „liberal troublemaker“ zu gelten.
Dabei leben wir in einem Land, das wie kein anderes auf Meinungsfreiheit gegründet wurde.
Ein anonymer Brief und das Schweigen der Nachbarn
Ich habe mich entschieden, diese Stille nicht mitzumachen. Seit dem Wahlkampf 2024 stehen in unserem Vorgarten zwei Schilder: „Anyone but Trump“ und „Are we great yet? I only feel embarrassed.“ Für mich sind sie kein Affront, sondern Ausdruck meines Rechts auf Meinungsfreiheit – des First Amendment, eines der heiligsten Fundamente der amerikanischen Verfassung. Es schützt das, was Demokratie ausmacht: das Recht, laut zu denken, zu sprechen und zu widersprechen.
Vor einigen Tagen bekam ich Post. Einen anonymen Brief, ohne Absender, aber mit klarer Botschaft: Ich möge meine politischen Schilder bitte „at my earliest convenience“ entfernen. Die Wahl sei vorbei, die Nachbarschaft gestört. Feige, anonym, ohne Dialogmöglichkeit. Ein Stück Papier, das mehr über den Zustand dieses Landes aussagt als jede Statistik. Ich lebe im konservativen Orange County, umgeben von vermutlich neunzig Prozent Republikanern auf der Halbinsel, auf der wir wohnen.
Viele Menschen sprechen mich inzwischen auf die Schilder an – durchweg positiv. Spaziergänger bleiben stehen, klopfen mir auf die Schulter oder flüstern mir im Vorübergehen zu, dass sie die Schilder wunderbar finden. Doch einen offenen, kritischen Dialog habe ich bislang noch nie erlebt. Zustimmung im Verborgenen scheint einfacher zu sein als ein ehrliches Gespräch über politische Haltung. Und genau das ist das Problem.
Es ist paradox. Während auf unzähligen Wohnmobilen am Strand in Huntington Beach „Trump 2028“- und „Trump was right about everything“-Flaggen flattern, soll ich meine Meinung lieber im Verborgenen lassen. Ich würde niemals verlangen, diese Flaggen abzuhängen. Das ist Freedom of Speech. Aber genau dieses Recht gilt für alle, nicht nur für diejenigen, die am lautesten schreien. Der amerikanische Traum lebt vom Versprechen der Freiheit. Doch Freiheit endet dort, wo Angst beginnt. Und diese Angst ist spürbar – in Familien, in Schulen, in Kirchen. Selbst in liberalen Gegenden in Kalifornien wagen viele kaum noch, öffentlich Haltung zu zeigen. Zu groß die Furcht vor sozialen Konsequenzen, vor Verlust von Freundschaften, vor Stigmatisierung.
Engagement statt Schweigen
Ich bin hier in Kalifornien nicht nur Unternehmer und Familienvater, sondern auch Aktivist. Ich engagiere mich bei den Balboa Dems, einer Gruppe, die sich für die Verfassung und für Menschlichkeit einsetzt. Wir helfen Migrantinnen und Migranten, die sich wegen der Trump-Politik kaum noch trauen, das Haus zu verlassen.
Manche gehen nicht mehr arbeiten, aus Angst vor der ICE – der Einwanderungsbehörde, die in den Communities als Gestapo wahrgenommen wird. Und trotzdem bleibt der gesellschaftliche Diskurs aus. Die Menschen reden übereinander, aber nicht miteinander. Dabei ist genau dieser Dialog das Fundament jeder Demokratie. Nur wer zuhört, kann verstehen. Nur wer widerspricht, kann aufklären. Nur wer spricht, kann Brücken bauen.
Ich weiß, dass meine Schilder manchen stören. Aber sie stehen für etwas Größeres: für Haltung. Für den Mut, auch dann Position zu beziehen, wenn es unbequem ist. Für Respekt gegenüber Andersdenkenden, aber auch für klare Grenzen gegenüber Populismus, Rassismus und Lügen. Angst habe ich keine. Denn Schweigen ist keine Option, wenn Freiheit auf dem Spiel steht.
Amerika leidet nicht nur an Polarisierung, sondern an Sprachlosigkeit. Beide Lager haben sich eingerichtet – in ihren Medienblasen, in ihren Komfortzonen, in ihrem Misstrauen. Doch Demokratie braucht Reibung. Sie braucht Streit, aber mit Respekt. Wer nicht mehr spricht, verliert die Fähigkeit zur Empathie. Und ohne Empathie verliert eine Gesellschaft ihren Zusammenhalt. Freiheit bedeutet nicht, immer recht zu haben. Freiheit bedeutet, anderen das Wort zu lassen – selbst dann, wenn es unbequem wird.
Ich bleibe also bei meinen Schildern. Nicht weil ich provozieren will, sondern weil ich glaube: Nur wer spricht, hält die Demokratie lebendig.
Philipp Depiereux ist Unternehmer und Autor und lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern seit knapp drei Jahren in Newport Beach, Kalifornien. Er teilt seine Eindrücke aus den USA und Deutschland alle 14 Tage im Handelsblatt-Wochenende.