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EditorialDeutschland muss sich entscheiden zwischen Aufbruch und Arbeitskreis

Die Deutschen verlieren die Geduld. Selbst im Sommerloch haben sie keine Muße, sich von Kuriositäten ablenken zu lassen. Stattdessen rufen sie nach Reformen oder stellen sogar Systemfragen – zu Recht.Kirsten Ludowig 08.08.2025 - 08:20 Uhr
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Handelsblatt Vizechefredakteurin Kirsten Ludowig Foto: Max Brunnert

Erinnern Sie sich noch an Petra, den schwarzen Schwan, der bundesweit bekannt wurde, weil er – oder vielmehr sie – sich auf dem Aasee im westfälischen Münster in einen (weißen) Tretboot-Schwan verliebte? Oder Kuh Yvonne, die vor der Schlachtung in die bayerischen Wälder flüchtete und als „Kuh, die ein Reh sein will“, Deutschland und seine Behörden in Atem hielt?

Viele Jahre in der nachrichtenarmen Zeit, wenn das politische Berlin im Juli und August pausiert, machten Tiere mit abnormem Sozialverhalten oder ungewöhnlichem Freiheitsdrang Schlagzeilen – oder aber die Idee, Mallorca zum 17. Bundesland zu machen.

Anders im Sommerloch 2025. Da geht es um schrumpfende Rücklagen der Krankenkassen, steigende Pflegekosten und ein Rentensystem, das Hunderte Milliarden Euro verschlingt – oder um es mit Wirtschaftsministerin Katherina Reiche zu sagen: um das deutsche Sozialsystem, das an einem „Kipppunkt“ steht.

Dieses mit dunkler Materie gefüllte Sommerloch, es sagt viel aus über die Stimmung im Land. Die Deutschen haben kein Verständnis mehr, sie verlieren die Geduld. Sie haben keine Muße, sich von Kuriositäten ablenken zu lassen. Stattdessen rufen sie nach Reformen oder stellen sogar Systemfragen. Und, nein, das liegt nicht nur daran, dass es in den letzten Wochen viel geregnet hat.

Die Menschen wollen, dass sich etwas ändert in Deutschland, dass Entscheidungen getroffen werden – hier und heute, nicht erst morgen. Und ich wage die Behauptung, dass viele bereit wären, einen gewissen Preis dafür zu zahlen, wenn der perspektivische Nutzen klar würde. Getreu dem Motto: What’s in it for me? Oder auch größer: Was hat die Gesellschaft davon, die Wirtschaft, die künftige Generation – unsere Zukunft?

Zwar hat Kanzler Friedrich Merz einen „Herbst der Reformen“ angekündigt, aber erst einmal geht nach der Sommerpause eine Reihe von Kommissionen an den Start. Das klingt weniger nach Aufbruch als nach „Wenn du nicht mehr weiterweißt, bilde einen Arbeitskreis“.

Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU): „Wir müssen mehr und länger arbeiten.“ Foto: Michael Kappeler/dpa

Frust ist die Folge und bei immer mehr Menschen auch Flucht. Von Januar bis April, das sind die neuesten Zahlen der Statistiker, haben schon mehr als 93.000 Deutsche das Land verlassen. Rechnet man das aufs Gesamtjahr hoch, könnte 2025 gar ein neuer Auswanderer-Rekord der Deutschen bevorstehen.

Es sind vor allem die gut Ausgebildeten im Alter zwischen 25 und 49 Jahren, die der Bundesrepublik den Rücken kehren: Akademiker und Handwerker, Selbstständige und Fachkräfte. Allesamt Menschen, die Deutschland in Zeiten des demografischen Wandels braucht.

Ärger über Bürokratie und mangelnde Digitalisierung oder die Sehnsucht nach Freiheit und Raum zum Gestalten – mehr als nach Sicherheit oder Wohlstand: Die Gründe fürs Auswandern, das können Sie in unserem Wochenendtitel lesen, sind verschieden.

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Was alle Auswanderer eint, ist die Unzufriedenheit mit einem Land, das eigentlich alles hat, um die politische und wirtschaftliche Lage zu verbessern, sich aber oft selbst lähmt, weil es Probleme verdrängt oder kleinredet und niemandem wehtun will – allen voran nicht der wachsenden Wählerklientel der Älteren.

Ein gutes Beispiel ist die Rentendebatte dieser Tage. Da spricht Wirtschaftsministerin Reiche aus, was fast alle namhaften Ökonominnen und Ökonomen für unumgänglich halten: Die Deutschen müssen mehr und länger arbeiten. Es kommen auch konkrete Vorschläge wie der vom Wirtschaftsweisen Martin Werding. Er legt nahe, das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung zu koppeln. Etwa so, dass von der gewonnenen Lebenszeit zwei Drittel ins Erwerbsleben gehen und ein Drittel in den Ruhestand.

Doch statt die Debatte ehrlich und konstruktiv zu führen, bekommt die CDU-Politikerin Gegenwind – auch aus der eigenen Partei. Mehrere Mitglieder des Sozialflügels CDA gingen sie an, sogar von „Fehlbesetzung“ war die Rede. Kanzler Merz hält sich zu Reiches Vorstoß bedeckt, um die SPD nicht zu verärgern.

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Und am vergangenen Mittwoch hat die Bundesregierung ein Rentenpaket gebilligt, dessen Zusatzkosten sich in den kommenden 15 Jahren auf mehr als 200 Milliarden Euro belaufen werden. Finanziert werden soll das Ganze aus dem Bundeshaushalt, dabei weist die Finanzplanung von Finanzminister Lars Klingbeil schon jetzt für die Jahre bis 2029 zusammengerechnet eine dreistellige Milliardenlücke auf.

Was würden Sie ändern, wenn Sie anstelle von Merz aus der Sommerpause zurück ins Kanzleramt kämen?
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Ich habe, wie wahrscheinlich viele von Ihnen, kürzlich meine alljährliche Renteninformation bekommen. Und ich würde es begrüßen, wenn Werdings Vorschläge (er hat noch weitere sinnvolle) Realität werden. Auch wenn das für mich bedeuten würde, dass ich bis 68 arbeiten müsste.

Jetzt sagen Sie vielleicht: Aber das kann der Kanzler ja nicht allein entscheiden. Stimmt, aber im Sommerloch darf man auch mal „Wünsch dir was“ spielen. Was würden Sie ändern, wenn Sie anstelle von Merz aus der Sommerpause zurück ins Kanzleramt kämen? Keine Rücksicht auf Koalitionsarithmetik – einfach machen. Schreiben Sie mir an ludowig@handelsblatt.com. Ich bin gespannt auf Ihre Gedanken!

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