Kommentar: Chinas Aufstieg ist kein Schicksal, dem Deutschland sich ergeben muss

Deutschland und Europa müssen gegenüber China selbstbewusst auftreten.
Das Hauptproblem der deutschen Chinapolitik ist ihre Schicksalsergebenheit. Wenn Angela Merkel über China spricht, klingt es so, als beschreibe sie eine Naturgewalt – wobei die Kanzlerin selbst dem Klimawandel mit mehr Gestaltungswillen begegnet als dem Aufstieg Chinas zur Supermacht. Europa habe „großes strategisches Interesse“ an einer Zusammenarbeit mit Peking, verkündete die Kanzlerin jetzt. Die Europäer müssten erkennen, „mit welcher Entschlossenheit China einen führenden Platz in den existierenden Strukturen der internationalen Architektur beansprucht“.
Natürlich vergaß Merkel nicht zu erwähnen, dass dies eine Herausforderung bedeute, die Europa „selbstbewusst annehmen“ müsse. Aber Worte sind billig. Selbstbewusstes Auftreten gehörte bislang nicht zum Repertoire der Merkel’schen Chinapolitik. Die Kanzlerin mag Spitzen gegen US-Präsident Donald Trump riskieren, aber sie hütet sich davor, den chinesischen Staatschef Xi Jinping zu verärgern.
Im Kanzleramt wird Merkels Duldsamkeit gegenüber China zur Realpolitik verklärt. Doch in Peking herrscht eine Machtclique, die diplomatische Zurückhaltung als Einladung interpretiert, Grenzen auszutesten. Wenn selbst die deutsche Industrie, für die Milliardeninvestitionen auf dem Spiel stehen, gegenüber der Kommunistischen Partei eine deutlichere Sprache findet als die Bundesregierung, wird klar, dass Berlin eine neue Chinapolitik braucht.
In Hongkong zeigt China, der angeblich friedfertige Gigant, derzeit, wie rücksichtslos es seinen Machtanspruch durchsetzt: Weil das Regime im Streben junger Menschen nach Selbstbestimmung eine Bedrohung für sein autoritäres Herrschaftsmodell sieht, soll die Demokratiebewegung erstickt werden. Die neuen Sicherheitsgesetze, die das Pseudoparlament in Peking auf den Weg gebracht hat, geben den Geheimdiensten der Volksrepublik die Ermächtigungsgrundlage für Operationen in Hongkong.
Gerade die friedlichen Demonstranten sollen eingeschüchtert und kriminalisiert werden, da sie aus Sicht der KP-Funktionäre besonders gefährlich sind. Beweisen sie doch, dass freiheitsnegierender Kollektivismus nicht in der chinesischen Kultur verankert ist, wie die Kommunistische Partei weismachen will, sondern vielmehr politisch erzwungen wird.
Mit seiner Honkong-Politik bricht China internationale Verträge
Peking verbittet sich Kritik. Doch der Umgang des chinesischen Regimes mit Hongkong ist keine innere Angelegenheit. China bricht internationale Verträge, wenn es sich über das Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ hinwegsetzt. Auch mit der Expansion im Südchinesischen Meer, der Drangsalierung Taiwans, der Masseninhaftierung der Uiguren im eigenen Land und dem schamlosen Ausschlachten der Corona-Pandemie für Propagandazwecke beweist Peking, dass es kein vertrauenswürdiger Partner mehr ist. Was bleibt vom Anspruch der Europäischen Union, eine Wertegemeinschaft zu sein und die regelbasierte Weltordnung zu verteidigen, wenn sich die Europäer vor diesem China wegducken?
Ausgerechnet der Normenverächter und Regelverletzer Donald Trump ist es jetzt, der für die Freiheit Hongkongs eintritt. Die vertraglich zugesicherte Autonomie der Millionenstadt ist das Papier nicht mehr wert, auf dem sie geschrieben steht, hat die US-Regierung entschieden. So bereitet sie den Boden für Sanktionen. Parallel hat der Kongress ein Gesetz verabschiedet, das die Verantwortlichen für die Unterjochung der Uiguren bestraft. Auch die Kampagne gegen Huawei, den Stolz der gelenkten chinesischen Hochtechnologiebranche, zeigt, wie ernst es den Amerikanern ist.
Der Konflikt zwischen den USA und China wird das 21. Jahrhundert prägen. Die jetzige Zuspitzung dieser Rivalität ist ein Moment der Wahrheit für die EU. Nicht weil Europa sich für eine Seite entscheiden müsse, wie gelegentlich behauptet wird. Vielmehr weil sich entscheidet, ob die EU die Kraft aufbringt, in einer multipolaren Welt ein eigener Machtfaktor zu werden. Darum geht es, wenn von der Stärkung der europäischen Souveränität die Rede ist. Als wirtschaftlich stärkstes Land Europas spielt Deutschland hierbei eine Schlüsselrolle.
Berlin muss Washington nicht folgen, wenn es sich in eine Totalkonfrontation mit China stürzt und die völlige wirtschaftliche Entkopplung vorantreibt. Aber zumindest sollte die Bundesregierung die Abhängigkeit von China nicht weiter verstärken, indem sie Huawei Deutschlands digitale Infrastruktur verlegen lässt. Auch ist schwer ersichtlich, wie es die Kanzlerin politisch durchhalten kann, der KP-Führung ein Investitionsabkommen und einen Prestigegipfel in Leipzig anzubieten, während in Hongkong Demonstranten niedergeknüppelt werden.
Das autoritär regierte China bleibt ein wichtiger Handelspartner, keine Frage, aber es ist auch ein Systemrivale, ein zunehmend aggressiver sogar. Die KP hat den Anspruch und das Machtpotenzial, die internationale Ordnung grundlegend zu verändern. Europa muss auf diese Herausforderung reagieren, indem es sie als Gefahr erkennt. Und nicht als Schicksal, in das es sich ergeben müsse.
Mehr: Die USA setzen China wegen Hongkong unter Druck – gut so.





