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Kommentar – Der ChefökonomFünf Vorschläge für eine unkonventionelle Angebotspolitik

Eine stimulierende Angebotspolitik kostet den Staat zunächst Geld. Die Zeit ist daher reif für unkonventionelle Ideen zur Erhöhung des Angebots an Arbeit und Kapital. Fünf Denkanstöße.Bert Rürup 26.04.2024 - 11:20 Uhr
Eine das Wachstum stimulierende konventionelle Angebotspolitik kostet zunächst viel Geld. Foto: IMAGO/Rupert Oberhäuser

Die Analyse des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist eindeutig: In keiner anderen großen Industrienation ist die gesamtwirtschaftliche Perspektive ähnlich eingetrübt wie in Deutschland. Lediglich um 0,2 Prozent soll die drittgrößte Volkswirtschaft in diesem Jahr wachsen.

Damit würde der Rückgang aus dem Vorjahr nicht aufgeholt; die wirtschaftliche Gesamtleistung läge dieses Jahr damit kaum über dem Niveau des Vor-Corona-Jahres 2019. Folgt man den Schätzungen des Sachverständigenrats, ist auch mittelfristig keine echte Besserung in Sicht. Denn das Trendwachstum soll bis zum Ende dieser Dekade nur bei 0,4 Prozent pro Jahr liegen – Quartale mit Null- oder Miniwachstum wären dann die neue Realität.

Die Ampelregierung hat dieses Problem inzwischen erkannt. Kein Regierungsmitglied behauptet mehr, Deutschland hätte dank „Krisen-Bazooka“ und „Doppel-Wumms“ die ökonomischen Herausforderungen der zurückliegenden Jahre besonders gut gemeistert. In Anerkennung dieser Realität hat Kanzler Olaf Scholz die Metapher vom „neuen grünen Wirtschaftswunder“ aus seinem Wortschatz verbannt.

Immerhin gelang es der Bundesregierung im März, ein gestutztes „Wachstumschancengesetz“ durch den Bundesrat zu bringen. Glaubt man Medienberichten, dann arbeiten die Koalitionsspitzen schon an einem neuen Wachstumspaket, mit dem das Trendwachstum verdoppelt werden soll – was ein grandioser Erfolg wäre.

Das Problem ist freilich: Eine das Wachstum stimulierende konventionelle Angebotspolitik kostet zunächst viel Geld. Ungewiss ist jedoch, wie stark und wie schnell sich Entlastungen für Unternehmen und Beschäftigte über höheres Wachstum refinanzieren. Da die verantwortlichen Politiker angesichts der angespannten Etatlage in Haushaltsjahren rechnen müssen, ist es hohe Zeit, über unkonventionelle Ideen nachzudenken. Fünf Anregungen:

1. Schuldenbremse

Der Verschuldungsspielraum der Schuldenbremse in Höhe von 0,35 Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) führt dazu, dass bei Einhaltung dieser Regel die Staatsschuldenquote kontinuierlich sinkt. Je nach unterstelltem nominalen Wachstum konvergiert diese Quote langfristig bei zehn bis 20 Prozent. Solch geringe Schuldenquoten als implizite Zielgröße sind weder im Maastricht-Vertrag vorgesehen noch gesamtwirtschaftlich sinnvoll.

Christian Lindner will an der Schuldenbremse festhalten. Foto: Roberto Pfeil/dpa

Als auf dem Höhepunkt der globalen Finanzkrise 2008 die Schuldenbremse entwickelt wurde, ging man von einem Verschuldungsspielraum von 0,5 Prozent des BIP aus. So sollte sichergestellt werden, dass die Etatführung von Bund und Ländern konform geht mit den EU-Schuldenregeln. Der EU-Fiskalvertrag sah vor, dass das mittelfristige Haushaltsziel der EU-Staaten ein gesamtstaatliches strukturelles Defizit von 0,5 Prozent in Relation zum BIP nicht übersteigt – solange die Schuldenquote nicht unter 60 Prozent liegt.

Heute spielt dieser Vertrag keine Rolle mehr – die Vorgaben werden von fast allen EU-Staaten ignoriert. Würde Deutschland seinen Spielraum auf ein Prozent erweitern, ginge dennoch die Schuldenquote perspektivisch zurück – während Bund, Ländern und Gemeinden reichlich 25 Milliarden Euro zusätzliche jährliche Defizite zur Bewältigung der neuen Herausforderungen zur Verfügung stünden.

2. Wohnraummangel

Deutschland steht unmittelbar vor einem massiven Alterungsschub, der die Zahl der Erwerbsfähigen deutlich zurückgehen lässt. Die Bundesregierung will das Problem mit dem Fachkräftezuwanderungsgesetz lösen. Doch allein die Tatsache, dass das Ziel „Fachkräftezuwanderung“ im Titel des Gesetzes steht, bedeutet noch nicht, dass die benötigten Fachkräfte auch kommen wollen. Neben der schweren deutschen Sprache ist vor allem die höchst angespannte Wohnungssituation in den Ballungszentren ein zentrales Hindernis für Zuzüge.

Die Wirtschaft steckt derzeit wegen sinkender Investitionen und einer Flaute am Bau im Konjunkturtal und schrumpfte Ende 2023 um 0,3 Prozent. Foto: Monika Skolimowska/dpa

Ein wesentlicher Grund für die Knappheit an Wohnraum in den Metropolen ist, dass viele Menschen in ihren angestammten vier Wänden wohnen bleiben, auch wenn sich die Anzahl der Haushaltsmitglieder aufgrund von Scheidung, Auszug der Kinder oder Tod des Partners verringert hat. In vielen Fällen wäre die Miete in einer neuen, kleineren Wohnung nämlich höher als in der angestammten großen Wohnung, da Mieten zumeist bei einem Wechsel deutlich angehoben werden.

Die Umzugsbereitschaft der Älteren ließe sich steigern, wenn ihnen eine neue Umzugsprämie in Aussicht gestellt würde. Mit solch einer Erhöhung des disponiblen Einkommens ließen sich Mobilität und Effizienz auf dem Wohnungsmarkt steigern.

3. Ehegattensplitting

Dem deutschen Einkommensteuergesetz liegt das heute überkommene Familienbild der Ein-Verdiener-Ehe zugrunde. Beim Ehegatten-Splitting werden die Einkommen beider Partner addiert und anschließend hälftig aufgeteilt und besteuert. Der daraus resultierende Vorteil ist umso größer, je unterschiedlicher die Einkommen der gemeinsam veranlagten Partner sind.

Gleichzeitig führt diese Regelung dazu, dass das Einkommen des Zweitverdieners mit hohen Abzügen belastet wird. Aus diesem Grund weichen heute viele von ihnen auf abgabenbegünstigte Minijobs aus – das ohnehin knappe Arbeitsangebot wird so weiter verknappt. Eine Abschaffung dieses überkommenen Splittings würde das Arbeitsangebot vor allem von Frauen erhöhen.

4. Abschreibungen

Die geltenden steuerlichen Abschreibungsregeln stammen zu großen Teilen noch aus dem vergangenen Jahrhundert, als Maschinen oft ein bis zwei Jahrzehnte funktionsfähig waren. Heute weisen viele moderne Gerätschaften einen hohen Softwareanteil auf, der rasch veraltet und die wirtschaftliche Nutzungsdauer schnell sinken lässt.

Der Autor: Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute. Foto: Handelsblatt

Die steuerlichen Abschreibungsfristen sollten daher angepasst werden. Verkürzte Fristen wirken wie ein Investitionsturbo. Sie verschaffen den Investoren zeitlich befristete spürbare Liquiditätsvorteile, ohne dass der Staat dauerhaft auf Steuereinnahmen verzichten muss. Als besonders wirksam hat sich die Möglichkeit erwiesen, Wirtschaftsgüter degressiv abzuschreiben – hohe Abschreibungen zu Beginn der Nutzungsdauer, geringere gegen Ende.

5. Potenzialschätzung

Bei Gesetzesvorhaben müssen heute die zu erwartenden Kosten ausgewiesen werden, also Steuerausfälle, höhere Sozialausgaben sowie Umsetzungskosten. Dies ist sicher wichtig und richtig. Überdies sehr wünschenswert wäre eine valide Schätzung, wie sich das geplante Vorhaben auf das Wachstumspotenzial der Volkswirtschaft auswirken dürfte – und welche Etatfolgen davon zu erwarten sind. Solche Abschätzungen würden etwa die mehrmaligen Verlängerungen von Kurzarbeit-Sonderregeln, die Bürgergelderhöhung oder die Rente ab 63 in einem anderen Licht erscheinen lassen.

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Zweifellos kann es gute Gründe geben, Reformen auch dann umzusetzen, wenn dadurch das Angebot an Arbeit oder Kapital sinkt und das Potenzialwachstum schrumpft. Die Abgeordneten sollten allerdings darüber informiert werden, bevor sie über ein Gesetz entscheiden. Gleichermaßen dürfte auch in der Öffentlichkeit manche Reform anders diskutiert werden, wenn diese Schätzungen vorlägen. Dem Wirtschaftswachstum muss sicher nicht Priorität eingeräumt werden. Es sollte aber klar sein, dass bei Wachstumseinbußen vieles gesellschaftlich Wünschenswerte schwieriger zu realisieren ist.

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