Kommentar: Der Harris-Hype ist nachvollziehbar – am Ende aber kommt es auf die Wirtschaft an

Nachdenklich, tiefgründig, humorvoll – Barack Obama hat einmal mehr gezeigt, dass er rhetorisch in einer eigenen Liga spielt. Der ehemalige Präsident lieferte eine nahezu perfekte Ouvertüre für die Kandidatenkür der Demokraten in Chicago. Am Freitag dann wird Kamala Harris ihren großen Auftritt haben.
Und tatsächlich: Die Begeisterung, die die Vizepräsidentin in den USA auslöst – und zwar nicht nur unter Demokraten, sondern bis weit in die amerikanische Mitte der Gesellschaft -, ist bemerkenswert.
Unerklärlich ist sie nicht. Harris weckt offenbar eine Sehnsucht, die in großen Teilen der amerikanischen Gesellschaft herrscht. Eine Sehnsucht nach Normalität jenseits eines Kulturkampfes, der spätestens seit Beginn der ersten Präsidentschaft Donald Trumps den politischen Diskurs vergiftet und die Gesellschaft bis an die Grenzen polarisiert hat. Eine Sehnsucht auch nach politischer Rationalität und Berechenbarkeit.
Eine Sehnsucht schließlich nach Aufbruch, den weder Trump noch Biden verkörpern, allein wegen ihres Alters, aber nicht nur. Der amtierende und der ehemalige Präsident stehen auf ihre jeweilige Weise für Vergangenheit oder präziser: für die Kämpfe der Vergangenheit, die mit alten Dämonen viel, mit Zukunftsprojektionen dagegen wenig zu tun haben. Insofern waren beide für die stets nach vorn strebende Nation geradezu unamerikanische Kandidaten.
Amerika sehnt sich nach einem inneren Frieden – und diese Sehnsucht spiegelt sich in den Umfragewerten von Harris wider – sowohl auf nationaler wie auch auf Basis der noch relevanteren Swing States.
Harris weckt eine neue Sehnsucht
Doch auch die neuen Sehnsüchte und die erstaunliche Begeisterung für die Kandidatin der Demokraten kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wahl nach wie vor völlig offen ist. Dieser Wahlkampf ist allein in den vergangenen sechs Wochen seit dem unglücklichen TV-Auftritt Bidens vor knapp zwei Monaten so furios verlaufen, dass das Bild in wenigen Wochen wieder völlig anders aussehen kann.
Ein bestimmender Faktor für diese Wahl dürfte die Wirtschaft sein. Und das gleich in zweierlei Hinsicht: Wichtig ist die Frage, wie sich die Wirtschaft bis zur Wahl am 5. November entwickelt. Die Angst vor einer Rezession mag übertrieben erscheinen. Sollten sich die Anzeichen dafür allerdings verdichten, wird es für die Republikaner ein Leichtes sein, Bidenomics dafür verantwortlich zu machen.
So wie sie es schon bei den hohen Inflationsraten der vergangenen beiden Jahre mit beachtlichem Erfolg gemacht haben. Ohne Zweifel haben Bidens gigantische Hilfspakete und Subventionen in einer ohnehin starken Konjunkturphase einen beträchtlichen Beitrag zur Inflationsentwicklung geleistet.
Noch wichtiger allerdings ist die Frage, was die Bürgerinnen und Bürger von einer Präsidentin Harris im Bereich Ökonomie erwarten. Insofern ist auch ihre Ankündigung zweieinhalb Monate vor der Wahl, die Unternehmensteuern von 21 auf 28 Prozent zu erhöhen, mindestens gewagt, manche sagen: tollkühn. Denn mit Steuererhöhungsankündigungen lassen sich selten Wahlen gewinnen, erst recht nicht in den USA.
Klüger wäre es gewesen, eine möglichst konkrete Initiative im Kampf gegen Steuerschlupflöcher anzukündigen, die in den USA bedenkliche Ausmaße angenommen haben. Steuergerechtigkeit ist ein großes Problem dort – und für die Demokraten ein durchaus wahlkampftaugliches Thema.
Unstrittig allerdings ist, dass die Haushaltspolitik der Trump- und Biden-Jahre mit Defiziten von derzeit zwischen fünf und sieben Prozent – den Rekord hält immer noch Trump im Jahr 2020 mit zwölf Prozent – nicht mehr tragbar ist. Eine Schuldenquote, die sich Richtung 130 Prozent der Wirtschaftsleistung bewegt, könnte auch für die größte Volkswirtschaft der Welt mit Leitwährungsprivileg zum Problem werden. Untrügliches Zeichen: Internationale Investoren meiden zunehmend amerikanische Staatsanleihen mit langen Laufzeiten.
Die Andeutungen von Trump, sich die US-Notenbank als Präsident gefügig zu machen, gleichen vor diesem Hintergrund einem ökonomischen Harakiri. Erst recht, wenn man bedenkt, dass der republikanische Kandidat im Falle eines Wahlsiegs noch einmal die Steuern senken will.
Mit der Aussicht auf eine Politik der ökonomischen Vernunft, die auch die Einnahmen und Ausgaben des Staates wieder einigermaßen in eine Balance bringt, könnte Harris also durchaus punkten.
Trump ist auf einmal der „Alte", gegen den er polemisierte
Insgesamt liegt das Momentum derzeit ohne Frage auf ihrer Seite. Die Republikaner, die sich noch auf ihrem Parteitag in Milwaukee unverletzlich wähnten, wirken hilflos. Trump, der nach dem Attentat fast den Status eines „Unantastbaren“ genoss, ist auf einmal der Alte, der Gestrige. Seine beißende, altersdiskriminierende Polemik gegenüber Biden trifft ihn jetzt selbst.
Wenn Harris in dieser überraschend starken Ausgangsposition der Versuchung widersteht, wie ihr Gegner in die Sphären des politischen Kulturkampfes abzugleiten, wenn ihr gelingt, die Freund-Feind-Rhetorik des politischen Diskurses zu überwinden, dann hat sie Chancen, im Januar 2025 als erste Frau als Präsidentin ins Weiße Haus einzuziehen.
Nichts hat Trump im Vorfeld seiner ersten Präsidentschaft so stark gemacht wie die Arroganz des in großen Teilen der Bevölkerung so verhassten Washingtoner Establishments. Kaum etwas hat den Demokraten größeren Schaden zugefügt als Hillary Clintons Gerede von den „beklagenswerten Menschen“, die einen Trump unterstützen.
„Etwas Magisches und Wunderbares liegt in der Luft. Es ist die ansteckende Kraft der Hoffnung“, sagte Michelle Obama in Chicago, die ebenfalls eine begnadete Rednerin ist. In der Tat: Die Hoffnung ist da – und sie ist eine notwendige Bedingung für den Sieg über Trump, wenn auch keine hinreichende.