Kommentar: Die Schuldenbremse muss reanimiert werden

Der Bund verschuldet sich in der Coronakrise auf Rekordhöhe.
Geprägt von der tiefen Rezession im Winter 2008/09 und dem jahrzehntelangen Anstieg der Staatsverschuldung gab es im Frühjahr 2009 einen breiten politischen Konsens, die Möglichkeiten des Staates zur Verschuldung zu begrenzen.
Daher fesselte die Politik sich und vor allem künftige Politikergenerationen mit einer im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse selbst. In konjunkturellen Normalzeiten sollte das Staatsdefizit auf 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung gedeckelt werden. Konjunkturelle Effekte sollten bei der Ermittlung des erlaubten Defizits ausgeklammert werden.
Vergangenen Donnerstag beschloss der Bundestag den größten Nachtragshaushalt in seiner Geschichte. Fast 43 Prozent ihrer Ausgaben will die Regierung dieses Jahr auf Pump finanzieren. Der Großteil davon fließt in Rettungs- und Konjunkturprogramme, mit denen die wirtschaftlichen Schäden durch den Corona-Lockdown gemildert werden sollen.
Binnen weniger Quartale werden die Staatsschulden von 60 auf 80 Prozent der Wirtschaftsleistung steigen. Auf Vollbremsung folgt Vollgas, ein ökonomisches Experiment mit unbekanntem Ausgang hat begonnen.
Ist die Schuldenbremse damit tot? Nein, zum einen erlaubt die Bremse Ausnahmen in besonderen Notlagen, wozu die Corona-Pandemie sicher zählt. Zum anderen ist Verschuldung weder grundsätzlich schlecht, noch sind Überschüsse per se gut.
Wird eine Investition mit Schulden finanziert, und werden diese während der Nutzungsdauer getilgt, so lohnt dies, sofern der Fremdkapitalzins nicht höher als die Erträge der Investition ist. Übertragen auf eine ganze Volkswirtschaft bedeutet dies nichts anderes, als dass Staatsschulden kaum Probleme bereiten, solange das Wirtschaftswachstum höher als der Zins für Staatsanleihen ist.
Erzielt der Staat hingegen Überschüsse und tilgt Altschulden, drückt er das Wachstum. Denn würden mit dem Geld stattdessen die Steuern für die Konsumenten gesenkt, könnten diese mehr konsumieren. Würden die Unternehmen entlastet, so könnten diese das Geld für lohnende, das Wachstum stimulierende Investitionen einsetzen. Tendenziell wäre das Wachstum also ohne Schuldentilgung höher.
Steigen die Steuereinnahmen infolge höheren Wachstums dauerhaft stärker als die Zinsbelastung für zusätzliche Staatsausgaben, wären neue Schulden stets ein gutes Geschäft für die Volkswirtschaft. Die Schulden von heute wären dann eben nicht zusätzliche Steuern von morgen.
Diese Rechnung geht freilich nur auf, wenn der Zins lange Zeit unter der Wachstumsrate der Volkswirtschaft bleibt. In den vergangenen Jahren traf dies für Länder mit sehr guter Bonität wie Deutschland zu, für Länder mit geringerer Bonität wie Italien gilt dies aber keineswegs. Und dass eine erstklassige Bonität keineswegs von ewiger Dauer ist, musste gerade Kanada feststellen, das als erstes Land durch die Coronakrise sein Triple-A-Rating verlor.
Es gibt keine Patentformel für eine optimale Schuldenquote
Hinzu kommt: Zinsprognosen sind auf lange Sicht unmöglich. Niemand hat vor zehn Jahren vorhergesagt, dass heute der Zins zehnjähriger Staatsanleihen negativ sein wird. Die meisten Ökonomen erwarten zwar, dass dies nicht zur neuen Normalität wird; doch wann und wie stark die Zinsen steigen werden, weiß niemand. Somit weiß auch niemand, zu welchem Zins der Staat seine Anleihen in Zukunft refinanzieren muss, die er jetzt zur Corona-Finanzierung begibt.
Was folgt daraus für eine kluge Post-Corona-Finanzpolitik? Sollte der Staat auf ewig niedrige Zinsen spekulieren, die Schuldenbremse wegen ihrer unbestreitbaren Mängel beerdigen und angesichts einer womöglich noch länger stotternden Wirtschaft wieder aus dem Vollen schöpfen? Oder sollte er einen Zinsanstieg fürchten und die Corona-Schulden möglichst rasch abtragen, etwa indem er Steuern erhöht oder Ausgaben kürzt?
Unstrittig ist, dass weder eine dauerhaft sinkende Schuldenquote noch dauerhaft steigende Schulden in Relation zur Wirtschaftsleistung eine erstrebenswerte Entwicklung darstellen. Doch eine Patentformel für eine optimale Schuldenquote gibt es nicht.
Für Deutschland legt die Entwicklung der vergangenen Dekade nahe, dass von einer Schuldenquote im Bereich von 60 bis 70 Prozent keine negativen Folgen für das Wachstum und die Handlungsfähigkeit des Staates ausgehen. Die sehr hohen Schuldenquoten Griechenlands oder Italiens lassen hingegen vermuten, dass dort sehr wohl die Staatsschuld eine Wachstumsbremse ist.
Hartes Sparen zur Tilgung der Corona-Schulden ist daher nicht erforderlich. Zur Haushaltskonsolidierung reicht es, die Schuldenbremse nach dem Ende der Krise rasch und ohne Buchungstricks wie die Auflösung von Rücklagen wieder einzuhalten. Über eine hoffentlich wieder wachsende Wirtschaft kann so die Schuldenquote gesenkt werden.
Perspektivisch denkbar wäre, die Schuldenbremse zu modifizieren, sodass das zulässige strukturelle Defizit mit sinkender Schuldenquote steigt. Sobald der EU-Schwellenwert von 60 Prozent eingehalten wird, könnte dem Staat ein zusätzlicher Spielraum eingeräumt werden. Solides Haushalten würde dann belohnt.





