Kommentar: Die Vollkasko-Republik fliegt der Politik um die Ohren


Am Freitag stimmt der Bundestag nicht nur über die Zukunft der Rente, sondern auch über die Zukunft des Landes ab. Scheitert das Rentenpaket an den Rentenrebellen der Union, wäre die Regierung Merz womöglich am Ende. Was danach käme, weiß niemand. Genau diese Drohkulisse dürfte dazu führen, dass das Rentenpaket durchgeht.
Dass der Aufstand der „Jungen Gruppe“ bis hierhin so einen Erfolg hatte, lag aber nicht nur an ihrer Vetomacht im Parlament. Für einen kurzen Augenblick flackerte auf, dass in diesem Land vielleicht doch eine andere, eine bessere Sozialpolitik möglich ist. Dass sich Politik auch dafür entscheiden kann, das „Richtige“ zu tun, statt immer Parteilogiken zu folgen. Und dass es junge Politiker gibt, die es leid sind, die Zukunft des Landes den immer gleichen Politikritualen zu opfern.
War die Rente Anfang der 2010er-Jahre solide aufgestellt, hat die Politik das Rentensystem durch eine Reihe ineffektiver Maßnahmen effektiv demontiert. Die Rentenpolitik ist ein besonders krasses Beispiel für die verfehlte Sozialpolitik der vergangenen 15 Jahre, aber auch in den anderen Bereichen sieht es nicht viel besser aus.
Getrieben von einer Angst vor Populisten und ausgestattet mit Taschen voller Geld, haben Bundesregierungen jeglicher Couleur zu lange geglaubt, die Bürger vor allen Krisen abschirmen zu müssen. Dieser „Neodirigismus“ hat eine Vollkasko-Republik erschaffen, die der Politik um die Ohren fliegt, nun da die guten wirtschaftlichen Zeiten vorüber sind.
Diese Politik hat den Sozialstaat nicht nur an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit gebracht, sie hat den Sozialstaat auch ineffizienter gemacht. Der deutsche Staat verteilt viel um gemessen an dem, was am Ende dabei herauskommt. Er nivelliert soziale Ungerechtigkeiten oft nicht, er vergrößert sie. Er sorgt an einigen Stellen für Überversorgung, während an anderen Bedürftige durchs soziale Raster fallen.
Ein paar Beispiele: Von der Stabilisierung des Rentenniveaus profitieren vor allem Gutverdiener. Der Geringverdiener dagegen hat später nicht nur eine schmale Rente, sondern auch von seinem laufenden Einkommen netto nicht viel mehr übrig als der, der nicht arbeitet. Daran ändern auch schärfere Sanktionen für Arbeitsverweigerer nichts.
Die Pflegereform hat dazu geführt, dass Pflegebedürftige in Pflegegrad 1 in den Genuss eines vom Staat bezuschussten Gärtners kommen. Durch die Reform des „Bundesteilhabegesetzes“ sitzen teils drei Betreuer für drei Kinder mit Behinderung in einer Klasse, während aufgrund von Personalmangel in den Jugendämtern Kinder in problematischen Elternhäusern sich selbst überlassen werden.
Union und SPD haben versprochen, mit Sozialstaatsreformen Probleme wie diese anzugehen. Da sie erst am Beginn dieser Reformen stehen, ist es zu früh, den Stab über sie zu brechen. Doch die ersten Ansätze geben wenig Grund zum Optimismus, dass die Regierung Merz plötzlich den Mut aufbringt, der ihren Vorgängerregierungen abging.
Eine große Reformdebatte mit großen Reformkonzepten wie zur Jahrtausendwende, als es in der Gesundheitspolitik um Bürgerversicherung gegen Kopfpauschale ging, findet nicht statt. Stattdessen verwässert Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) noch die sinnvolle Krankenhausreform von Karl Lauterbach (SPD). An das Problem des Lohnabstandsgebots hat sich die Bundesregierung bei der Bürgergeld-Reform nicht herangetraut, dafür müsste sie an das Wohngeld ran.





Bei der Rente soll es mal wieder eine Rentenkommission richten, nachdem schon die letzte krachend gescheitert ist. Und wer sich deren Auftrag durchliest, bekommt den Verdacht, dass Union und SPD das gleiche Drehbuch wie seit zehn Jahren verfolgen: Statt einen Kompromiss auszuhandeln, einfach wieder alles aus beiden Rentenprogrammen beschließen.
Und auch wenn die „Junge Gruppe“ der Union aus staatspolitischer Verantwortung dem Rentenpaket in großen Teilen zustimmen sollte, ist der Kampf nicht verloren. Er beginnt erst. Bei der Rentenreform im neuen Jahr werden die Karten neu gemischt. Spätestens dann ist es an der Zeit, das Richtige zu tun. Ausreichend Erpressungspotenzial ist vorhanden.








