Kommentar: In der Pflegeversicherung darf es keine roten Linien geben

Das Muster ist immer das Gleiche: Kaum kommt ein Vorschlag für Sozialstaatsreformen auf den Tisch, der auch nur kleine Zumutungen für die Bürgerinnen und Bürger enthält, wird er sofort zerredet. Das war beim Vorstoß, Karenztage für Krankschreibungen einzuführen, genauso wie bei der Idee, beim ersten Arztbesuch eine Patientengebühr zu erheben. Und auch beim Gedankenspiel, den Pflegegrad 1 der Pflegeversicherung abzuschaffen, funktionieren die Reflexe. Da werde seine Partei auf keinen Fall mitmachen, stellte SPD-Fraktionschef Matthias Miersch klar.
Wie ernst soll man also den „Herbst der Reformen“ nehmen, den Bundeskanzler Friedrich Merz angekündigt hat? Wie soll die eingesetzte Pflegekommission vernünftige Reformvorschläge entwickeln, wenn die Politik per Fernsehinterview gleich rote Linien zieht?
In der Pflegeversicherung hat es in den vergangenen Jahren immer wieder Leistungsausweitungen gegeben, ohne dabei die Finanzierung zu bedenken. In der Folge droht im kommenden Jahr ein Defizit von zwei Milliarden Euro, in der Krankenversicherung sind es sogar vier Milliarden Euro. Die Streichung des Pflegegrads 1 würde zwar mehr als 860.000 Menschen treffen, aber mit ihr ließe sich das für 2026 erwartete Defizit in der Pflegekasse fast stopfen.
Ohne Reformen in den sozialen Sicherungssystemen wird sich der Sozialversicherungsbeitrag relativ rasch auf die Marke von 45 Prozent des Bruttolohns zubewegen. Lässt Merz das einfach so laufen, kann er die Wettbewerbsagenda, über die das Bundeskabinett bei seiner Klausur am Dienstag und Mittwoch in der Berliner Villa Borsig reden will, gleich vergessen. Der Kanzler muss Bürgern, Kabinettskollegen und Regierungsfraktionen klar sagen, dass der Herbst der Reformen auch Zumutungen mit sich bringt. Sonst wird er eine bloße Worthülse bleiben.