Kommentar: Merz muss jetzt liefern, sonst wird die AfD immer stärker

Bei der Generaldebatte im Bundestag zeigte sich ein vertrautes, aber für den Kanzler gefährliches Bild: AfD-Fraktionschefin Alice Weidel nutzte die Bühne, um Friedrich Merz und seine Koalition frontal anzugreifen – und sie traf ins Schwarze. Mit scharfer Rhetorik warf sie Merz Realitätsverweigerung und den Bruch zentraler Wahlversprechen vor. Aus Sicht ihrer Partei sei weder die versprochene Migrationswende noch die strikte Einhaltung der Schuldenbremse umgesetzt worden.
Besonders provokant unterstellte sie dem Kanzler sogar „Kriegstreiberei“ und behauptete, er sabotiere die Bemühungen von US-Präsident Trump, den Ukrainekrieg schnell zu beenden. So absurd insbesondere Weidels außenpolitische Thesen auch sein mögen, insgesamt gelang es der Fraktionschefin, den Frust vieler Wähler über ausbleibende Ergebnisse zu bedienen und rhetorisch auf den Punkt zu bringen.
Merz hielt mit einem Appell an Vernunft und Verantwortung dagegen. Angesichts der Bedrohungslage in Europa verteidigte er den Anstieg der Verteidigungsausgaben. Eine starke Bundeswehr, so der Kanzler, sei unverzichtbar, um Frieden und Freiheit zu bewahren.
Er schwor die Bürger auf einen „Herbst der Reformen“ ein: Es gehe um Grundsätzliches – um den Schutz der Demokratie vor inneren und äußeren Angriffen, um ein Wirtschaftsmodell, das unter Protektionismus und hohen Energiepreisen leide, und um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Seine Botschaft: Die Regierung wolle Freiheit bewahren, Wohlstand mehren und neuen Zusammenhalt ermöglichen.
Doch während Merz auf langfristige Reformen setzt, punktet Weidel mit dem Vorwurf, dass genau diese Reformen bislang nur auf dem Papier stehen. Die jüngste YouGov-Umfrage, die die AfD mit 27 Prozent erstmals einen Punkt vor der Union sieht, verstärkt den Eindruck, dass ihre Kritik verfängt. Mehrere Mittelstandsverbände konstatierten in dieser Woche in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt, die Enttäuschung und der Frust in weiten Teilen der Wirtschaft säßen tief.
Merz muss deshalb aufpassen, dass sein angekündigter Herbst der Reformen nicht zum lauen Lüftchen verkommt. Deutschland braucht nicht nur eine positive Stimmungswende, sondern durchgreifende Strukturreformen – bei Rente, Arbeitsmarkt und Arbeitskosten. Vor allem muss verhindert werden, dass die Sozialversicherungsbeiträge im Zuge des demografischen Wandels immer weiter steigen.
Ohne solche Weichenstellungen wird auch das schuldenfinanzierte 500-Milliarden-Euro-Paket der Bundesregierung keinen nachhaltigen Aufschwung bringen. Gelingt es Merz nicht, die von ihm geweckten Erwartungen zu erfüllen, droht er ausgerechnet jene Kräfte zu stärken, die er in Schach halten will: eine AfD, die sich längst als Regierungspartei in Wartestellung inszeniert.