Kommentar: Rishi Sunak hat nicht geliefert


Der britische Premierminister Rishi Sunak startete in das zu Ende gehende Jahr mit fünf Versprechen. Nur eines davon – die Inflationsrate zu halbieren – konnte er einlösen. Dass die Erfolgsbilanz des konservativen Regierungschefs zu Beginn des Wahljahres 2024 so mager ausfällt, hat nicht nur, aber auch mit dem Brexit zu tun. Siebeneinhalb Jahre nach dem unseligen Referendum bestimmt der EU-Austritt immer noch die Politik, Wirtschaft und nationale Gemütslage im Königreich.
Um das zu illustrieren, muss man nur die vier Versprechen durchgehen, mit denen Sunak gescheitert ist. Sein schwierigstes Vorhaben war es, die britische Wirtschaft wieder auf einen Wachstumskurs zu bringen. Zwar hat das Bruttoinlandsprodukt (BIP) inzwischen wieder das Niveau vor der Pandemie erreicht, die Wirtschaft stagniert jedoch seitdem und ist im dritten Quartal 2023 sogar geschrumpft.
Auch für das kommende Jahr sind die Aussichten trübe. Die OECD rechnet mit einem mageren Plus von 0,7 Prozent. Mit seinem Hinweis, dass man damit immer noch besser dastehe als Deutschland, kann Sunak seine unter Wohlstandsverlusten leidenden Landsleute nicht mehr trösten.
Der Brexit hat die Probleme Großbritanniens nur verstärkt
„Der Brexit hat nicht alle wirtschaftlichen Probleme Großbritanniens verursacht, aber er hat sie alle verschlimmert.“ Diese Diagnose des US-Ökonomen und ehemaligen britischen Notenbankers Adam Posen stimmt noch heute.
Zwar reichen einige Ursachen für die Wachstumsschwäche Großbritanniens schon weit in die Zeit vor dem EU-Austritt zurück. Über schwache Produktivität, zu geringe private und öffentliche Investitionen und die häufigen Richtungswechsel der britischen Politik klagen Ökonominnen und Ökonomen seit Jahrzehnten.
Richtig ist aber auch, dass der Brexit diese chronischen Schwächen noch verstärkt hat. Warum eine offene Volkswirtschaft wie Großbritannien sich von seinem wichtigsten Exportmarkt abnabelt und damit einen Handelskrieg gegen sich selbst anzettelt, bleibt bis heute ein Rätsel.
„Take back control“ – davon kann keine Rede sein
Zum Jahreswechsel hat die British Chamber of Commerce auf die hohen Kosten und Handelsbarrieren hingewiesen, die für viele britische Firmen oft zu einem unüberwindbaren Hindernis im Warenverkehr mit der EU geworden sind. Auch die britischen Finanzdienstleister warten bis heute auf einen dauerhaften Zugang zum EU-Binnenmarkt, wie London ihn jetzt für die Schweiz ausgehandelt hat.
Nicht besser sind Bilanz und Ausblick beim Zuzug von Einwanderern und Flüchtlingen. „Take back control“ war der Schlachtruf der Brexit-Anhänger. Davon kann jedoch keine Rede sein: Die Zahl der legalen Einwanderer stieg bis Ende 2022 auf einen neuen Rekordwert von 745.000 – das ist mehr als doppelt so hoch wie vor dem Brexit.
Die Zahl der meist über den Ärmelkanal illegal eingewanderten Flüchtlinge verringerte sich im abgelaufenen Jahr zwar um etwa ein Drittel. Sein Versprechen, die Flüchtlingsboote zu stoppen, konnte Sunak aber dennoch nicht erfüllen. Und sein Plan, die Bootsflüchtlinge einfach nach Ruanda abzuschieben, könnte im neuen Jahr entweder im britischen Parlament oder aber vor Gericht scheitern.
Dass die EU nun ihrerseits das Asylrecht für Flüchtlinge verschärft und „Ruanda-Modelle“ auch in den Köpfen deutscher Konservativer herumgeistern, zeigt, dass es sich bei der Flüchtlingskrise um ein globales Problem handelt und Europa dafür eine gemeinsame Lösung braucht. Der britische Sonderweg führt in die Irre.
Eine direkte Folge der durch den Brexit ideologisch aufgeheizten Einwanderungspolitik ist, dass Sunak auch sein Ziel verfehlte, die langen Wartezeiten im staatlichen Gesundheitssystem NHS zu verkürzen. Dem NHS fehlen Ärzte und Krankenschwestern, nachdem viele von ihnen das Land nach dem EU-Austritt verlassen mussten oder wollten.
Obwohl die Lücke beim NHS nur mithilfe von ausländischen Fachkräften geschlossen werden kann, beharren die Anhängerinnen und Anhänger eines harten Brexits darauf, dass auch legale Zuwanderung mit drastischen Abschreckungsmaßnahmen pauschal reduziert wird. Für ein Land, das sich gern auf seinen traditionellen Pragmatismus beruft, ist diese ideologische Selbstfesselung grotesk.
Die Dauerprobleme im Gesundheitssystem stehen symbolisch für die Misere bei vielen öffentlichen Dienstleistungen. Sunak hatte versprochen, dafür zu sorgen, „dass unsere Staatsverschuldung sinkt, damit wir die Zukunft der öffentlichen Dienste sichern können“. Die staatliche Statistik-Aufsicht widersprach jedoch kurz vor Jahresende dem Premier, der seine Mission bereits als erfüllt betrachtet hatte.
Rishi Sunaks Eins-zu-vier-Niederlage wird nichts am Brexit ändern
Die Staatsschuld ist jedoch auf knapp unter 100 Prozent des BIP gestiegen und soll erst 2028 leicht zurückgehen. Selbst diese Prognose ist nur erreichbar, wenn die Regierung dafür reale Ausgabenkürzungen bei vielen öffentlichen Dienstleistungen in Kauf nimmt. Das ist das Dilemma einer stagnierenden Wirtschaft.
Sunaks Eins-zu-vier-Niederlage wird allerdings nicht dazu führen, dass die vom Brexit und den Tories enttäuschten Britinnen und Briten nun alsbald in die EU zurückkehren. Selbst die Labour-Partei würde nach einem Sieg bei den kommenden Parlamentswahlen das immer noch traumatisierte Königreich nicht erneut in eine Zerreißprobe führen.





Nur ein Schock-Sieg Donald Trumps bei den Präsidentschaftswahlen in den USA könnte die Inselbewohner vielleicht dazu bewegen, doch noch mal über den Brexit nachzudenken.
Erstpublikation: 27.12.2023, 15:40 Uhr.






