Kommentar: Warum wir die Tesla-Files veröffentlichen

Sebastian Matthes ist Chefredakteur des Handelsblatts.
Die Aufstiegsgeschichte von Tesla fasziniert mich seit Jahren: die überlegene Software, die innovative Batterietechnik, die Fabriken, die Tesla so in Szene zu setzen weiß, dass alle Welt plötzlich den Tesla-eigenen PR-Begriff „Gigafactory“ verwendet.
Und die Tatsache, dass die deutsche Automobilindustrie ohne den Weckruf von Tesla wahrscheinlich immer noch vom Diesel träumen würde. Mit Tesla hat Elon Musk, das kann man so sagen, die Welt verändert.
Doch es gibt da noch eine andere Tesla-Geschichte, und um die soll es heute gehen. Unser großer Report handelt von einem Konzern, der womöglich etwas zu schnell gewachsen ist. Der auf Technologien setzte, die zwar vielversprechend waren, deren Entwicklung aber mit den immer neuen Versprechen des Tech-Visionärs Musk nicht mithalten konnte. Und es ist die Geschichte eines Unternehmens, das offenbar etwas zu lax mit den Daten seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umging.
Wir berichten heute über die Tesla-Files, das sind 100 Gigabyte Daten, die offenbar aus dem Innersten von Tesla stammen. Sie wurden dem Handelsblatt von mehreren Informanten zugespielt, und sie geben Hinweise darauf, wie das sonst so verschwiegene Unternehmen funktioniert.
Sechs Monate lang wertete ein zwölfköpfiges Handelsblatt-Team Dateien aus: 1388 PDF-Dokumente, 1015 Excel-Tabellen und 213 Powerpoint-Präsentationen – dazu zahlreiche Bilder, Videos, Audiodateien und E-Mails.
Die Daten zeigen das Bild eines Elektroauto-Pioniers, der weit größere technologische Probleme zu haben scheint als bislang bekannt. Mit seinem Autopiloten zum Beispiel. So finden sich in den Tesla-Files Tausende Berichte über Komplikationen mit den Fahrassistenzsystemen. Beschwerden, dass Tesla-Fahrzeuge bei voller Fahrt unvermittelt bremsen. Oder plötzlich beschleunigen.
Dass ein Tesla auf einem Parkplatz offenbar eigenhändig Poller umfährt. Viele Unfälle gingen glimpflich aus, einige endeten tödlich. Eine Tabelle in den Tesla-Files zu mutmaßlichen Sicherheitsproblemen des Autopiloten umfasst rund 3000 Einträge.
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Unsere Redaktion hat Tesla dazu vor zwei Wochen einen umfangreichen Fragenkatalog geschickt. Der blieb unbeantwortet. Stattdessen forderte das Unternehmen die Löschung der Daten und spricht von Datendiebstahl.
Glauben Sie mir, ich berichte lieber über erfolgreiche Innovationen und ich mag mutige unternehmerische Visionen. Doch ich habe keinen Zweifel: Diese Geschichte gehört an die Öffentlichkeit. Auch die anderen Autohersteller tun sich mit dem autonomen Fahren schwer. Nur hat eben kaum ein Autochef in diesem Feld so große Versprechen gemacht wie Elon Musk. Schon 2016 erklärte er, das autonome Fahren sei „im Wesentlichen ein gelöstes Problem“. Bis heute äußert er sich immer wieder ähnlich.

Eine Tesla-Limousine mit eingeschaltetem Autopiloten auf einer Straße in Kalifornien.
Das Handelsblatt hat für diese Veröffentlichung nicht nur Daten analysiert. Unsere Reporterinnen und Reporter haben in Europa und den USA mit aktiven und ehemaligen Tesla-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern gesprochen, Mobilitätsexperten befragt, und sie haben Dutzende Unfallopfer interviewt – oder wenn das nicht mehr ging: deren Hinterbliebene.
Am Ende der Recherche steht auch die Frage, wie gewissenhaft Tesla mit Daten umgeht, denn die Informanten konnten auf die Dateien offenbar ohne größere Beschränkungen zugreifen, obwohl die Informationen weit über ihr Aufgabengebiet hinausgingen: Die Tesla-Files zeigen Gehälter von 100.000 Mitarbeitenden, Bankverbindungen von Kunden, geheime Details aus der Produktion, sogar die mutmaßliche Fahrzeug- und Sozialversicherungsnummer von Tesla-Chef Elon Musk.
Der Alarmruf eines der Informanten hat auch Behörden in Bewegung versetzt. „Der Landesbeauftragten liegen ernst zu nehmende Hinweise auf mögliche Datenschutzverletzungen durch den Automobilkonzern Tesla vor“, lässt die brandenburgische Landesdatenschutzbeauftragte Dagmar Hartge mitteilen. In ihrer Region liegt Teslas deutsche Gigafabrik.
Aus dem Handelsblatt-Podcast-Studio:


Die Recherchen dokumentieren die Struktur eines Konzerns mit mehr als 127.000 Mitarbeitern, der auf eine Person zugeschnitten ist: Elon Musk. Der Firmenchef scheint in die kleinsten Dinge involviert zu sein – sei es das Material der Batterieanode oder seien es Türgriffe. So können Start-ups funktionieren. Ab einer gewissen Größe brauchen Firmen aber andere Strukturen, starke Führungskräfte – und eine IT, die sowohl Firmengeheimnisse wie auch Daten der Beschäftigten schützt.
Elon Musk mag ein genialer Unternehmer sein, sicher auch, weil ihn die Grenzen des zuvor Gedachten oftmals nicht kümmern. Sollten Musks Unzulänglichkeiten in der Konzernführung allerdings zur Folge haben, dass die Rechte seiner Angestellten und das Leben seiner Kundinnen und Kunden gefährdet sind, dann ist es an der Zeit, seiner Macht engere Grenzen zu setzen.





