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LeserdebatteHat der Westen seinen Zenit überschritten?

Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten fordern die USA und ihre Verbündeten heraus wie lange nicht. Die Handelsblatt-Leserschaft debattiert, wie sich die internationale Ordnung verändert.Johanna Müller 03.11.2023 - 13:07 Uhr Artikel anhören

Bundeskanzler Olaf Scholz (links) trifft US-Präsident Joe Biden.

Foto: Reuters

Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten stellen den Westen vor große Herausforderungen. Autokraten wittern die Chance, ihren Einfluss auszubauen. Wir haben unsere Leserinnen und Leser gefragt: Ist der Westen in die Defensive geraten? Wie verändert sich derzeit die internationale Ordnung?

Die Rückmeldung aus der Leserschaft ist relativ eindeutig: Der Westen hat an Bedeutung eingebüßt. Einen Grund sehen manche in der mangelnden Anpassungsfähigkeit an aktuelle Entwicklungen. Der Westen trete „auf der Stelle“ und handle „wie vor 30 Jahren“, wird bemängelt. Viele Länder, insbesondere aus „Ost- und Südostasien“, entwickelten sich in größeren Schritten und seien „auf der Überholspur“. Zudem werde die belehrende Politik des Westens mit „erhobenem Zeigefinger“ von anderen Staaten als „überheblich“ empfunden.

Einige Leser bemängeln einen fehlenden Zusammenhalt der westlichen Staaten. Auf die „großen Worte der gemeinsamen Stärke“ folgten leider „keine erkennbaren gesamtheitlichen Übereinstimmungen“. Um dem „globalen Bedeutungsverlust“ entgegenzuwirken, müsse der Westen dringend seine „Kräfte bündeln“, meint ein Leser. Mit geeinter Kraft wäre Europa „durchaus in der Lage“, seine „Bedeutung vergangener Dekaden“ zurückzugewinnen. Gleichzeitig sieht er die Einigkeit durch das „Aufleben nationalistischer Gesinnungen“ in weite Ferne rücken. Dem stimmt ein anderer Leser zu. Auch er sieht die EU, zumindest „im politischen Metier“, aufgrund des „nationalistischen Denkens“ abdriften.

Einige Leser blicken recht pragmatisch auf die Veränderungen. So schreibt einer, für eine gute Zukunft müsse sich der Westen an eine neue, multipolare Welt „mit selbstbewussten, autokratischen Systemen“ anpassen. Ein anderer Leser fügt hinzu: „Außereuropäische Nationen schieben sich immer mehr neben uns. Damit muss der Westen leben lernen.“

Für die aktuelle Ausgabe unseres Leserforums haben wir aus den unterschiedlichen Zuschriften eine Auswahl für Sie zusammengestellt.

Ein geeintes Europa gegen den Bedeutungsverlust

„Das Problem des Westens ist Europas mangelnder Zusammenhalt. Nur wenn es dieser Mini-Kontinent schaffen sollte, seine Kräfte zu bündeln, kann sein globaler Bedeutungsverlust aufgehalten werden. Dazu bedarf es aber zum einen Mut zu Entscheidungen, die nicht nur dem Wunsch der Wiederwahl geschuldet sind, und zum anderen dem Abschaffen der Einstimmigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Ein geeintes Europa wäre durchaus in der Lage, dem Westen die Bedeutung vergangener Dekaden zurückzubringen. Doch mit dem Aufleben nationalistischer Gesinnungen sehe ich diese Einigkeit leider in weiter Ferne.“
Rainer Leddin

Ein Handeln wie vor 30 Jahren

„Der Westen muss pragmatische und rationale Lösungen für die bestehenden Konflikte und bei Handelsabkommen anbieten.

Man hat in Brüssel den Eindruck, dass nach dem gleichen Muster verhandelt wird und Entscheidungen getroffen werden wie vor 30 Jahren. Die internationale Ordnung wird zunehmend von blockfreien aufstrebenden Staaten bestimmt, die Belehrungen aus Europa und Amerika nicht benötigen. Mit erhobenem Zeigefinger auftreten und nur eigene Meinungen gelten lassen wird von anderen als Überheblichkeit gesehen, die nicht mehr gegeben ist.

Es wäre aus meiner Sicht wichtig, einige Akteure der europäischen Kommission und in Amerika auszutauschen, die geistig der Entwicklung in der Welt nicht mehr folgen können.“
Dietmar Günther

In den westlichen Demokratien wird viel zu viel palavert

„Ob der Zenit bereits überschritten ist, möchte ich nicht beurteilen. Aber wenn alles so weitergeht wie in den letzten Jahren, dann werden andere den Westen schon bald abhängen. In den westlichen Demokratien wird viel zu viel palavert und auf der Stelle getreten, während andere voranschreiten und große Vorhaben Schritt für Schritt umsetzen.

Auf der Überholspur sind sie schon!

Was könnte uns helfen? Zum Beispiel weniger Bürokratie, weniger Palaver und Ärmel hoch statt Hängematte.“
Erwin Wolf

>> Lesen Sie auch: Unser Pro und Contra zum Thema

Europa ist auf dem Weg abwärts

„Die Geschichte zeigt, dass Kulturen einem Höhepunkt entgegenstreben. Haben sie diesen erreicht, fallen sie ab, bis sie teilweise ganz verschwunden sind. Gleichzeitig streben andere Nationen und Kulturen nach oben.

Europa befindet sich momentan auf dem Weg abwärts und wurde durch die USA abgelöst. Im Moment schaut es so aus, als würde der asiatische Kontinent aufstreben.“
Klaus Meißner

Es fehlt an Diplomatie und Besonnenheit

„Meiner Ansicht nach fehlt es völlig an Diplomatie und Besonnenheit sowohl bei den Vertretern der Bundesrepublik als auch bei Vertretern der EU.

Geradezu leichtfertig wird mit Statements seitens der Außenpolitik umgegangen, gefährlich und riskant angesichts der Gefährdung im eigenen Land.“
Else Lena Weigelt

Der Anfang vom Ende der westlichen Ordnung

„Das 1992 von Francis Fukuyama prognostizierte ‚Ende der Geschichte‘ scheint eher der Anfang vom Ende der westlichen Ordnung gewesen zu sein.

Insbesondere der moralische und kulturelle Einfluss der USA als Führungsmacht schwindet. Die America-first-Politik macht aus Partnern Rivalen – auch in Europa. Die US-Demokratie hat sich in der Polarisierung festgefressen. Und die westliche Außenpolitik stößt spätestens seit dem abrupten Abzug aus Afghanistan den globalen Süden sowie Blockfreie ab.“
Jörg Schmitz

Russlands Präsident Wladimir Putin und sein chinesischer Amtskollege Xi Jinping haben andere Wertvorstellungen als der Westen.

Foto: via REUTERS

Anderen Staaten mit Respekt und auf Augenhöhe begegnen

„Veränderung ist die einzige Konstante in der Welt. Die Amerikaner wissen das und haben ihre Flexibilität und Anpassungsfähigkeit oft bewiesen. Bei Europa bin ich da skeptischer. Unsere Moral, die wir gerne in die Welt hinaustragen (insbesondere die Deutschen), ist in vielen Bereichen heuchlerisch und hinderlich.

Anpassungsfähigkeit in einer neuen Welt mit selbstbewussten, autokratischen Systemen bedeutet aber auch, die eigenen Regeln und Moralvorstellungen zu hinterfragen und wieder mehr Platz für pragmatische Lösungen zu schaffen. Im Endeffekt müssen wir wie den Menschen auch anderen Staaten mit Respekt und auf Augenhöhe begegnen – ohne dogmatische Moralvorstellungen.

Wenn diese Anpassung gelingt, haben Europa und der Westen eine gute Zukunft in einer multipolaren Welt.“
Martin Leiner

Große Worte der gemeinsamen Stärke, aber sonst nichts

„Der Westen hat seinen Zenit im wirtschaftlichen Sinne nicht überschritten.

Im politischen Metier driftet insbesondere die EU ab – aufgrund des immer noch nationalistischen Denkens. Es gibt große Worte der gemeinsamen Stärke, aber keine erkennbaren gesamtheitlichen Übereinstimmungen in der auch jetzt aktuellen Situation von weltweiten kriegerischen Auseinandersetzungen.

Das Vertrauen gegenüber der Politik schwindet, man gibt die einst so weltweit geachtete politische und wirtschaftliche Stärke des Westens zunehmend leichtfertig aus der Hand.“
Thomas Schöpflin

Der Westen muss mit seiner neuen Position leben lernen

„Die Angst, der Westen habe seinen Zenit überschritten, ist unbegründet. Hingegen hat die Entwicklung in der weiteren Welt – namentlich in Ost- und Südostasien – dazu geführt, dass der Westen die Vormachtstellung verliert, die er seit der Renaissance einzunehmen begonnen hatte. Außereuropäische Nationen schieben sich immer mehr neben uns. Damit muss der Westen leben lernen.“
Hans Jakob Roth

>> Lesen Sie auch das Interview mit China-Forscher Moritz Rudolf: „China will die bestehende globale Ordnung von innen heraus verändern“

Der Westen wird immer weiter abfallen

„Ich denke, man kann das so sagen, dass der Westen seinen Zenit überschritten hat. Natürlich gibt es bei uns immer noch sehr engagierte und talentierte Menschen, aber was zählt, ist doch die Gesamtheit.

Ich erlebe tagtäglich ein Land mit größtenteils erschöpften, wenig zufriedenen – geschweige denn freudvollen und anpackenden Menschen. Und ich wundere mich immer mehr, wenn ich donnerstags und freitags zur Arbeit radle, wie wenig dann auf unseren Straßen los ist. Produktivität fühlt sich anders an. Das kann man eben zum Beispiel in Chinas Städten hautnah erleben. Dort gibt es eine unglaubliche Dynamik, die Menschen sind fleißig und im Aufbruch begriffen. In Vietnam und vielen anderen Ländern ist das ähnlich. Es ist die Aushöhlung von innen, die mir Sorgen bereitet, wenn ich an den Westen denke.

Wir werden mit hoher Wahrscheinlichkeit immer weiter abfallen – die Frage ist, ob wir es realisieren und wie wir auf diese unangenehme Wahrheit reagieren werden.“
Kay Schwarzer

Der Zenit ist weder überschritten noch erreicht

„Der Westen hat seinen Zenit weder überschritten noch erreicht. 

Die derzeitigen Probleme – nennen wir es doch lieber mal ‚Aufgaben‘ – sind ein Resultat aus jahrelang verfehlter Politik und ökologischer Fantasie (Wunschdenken), die eben nicht vorausschauend und einer Logik folgend durch unqualifizierte Entscheidungsträger entworfen und gestaltet wurde.

Wenn wir jetzt um zwölf Uhr nicht aufwachen und erkennen, dass ein Weiter-so nicht geht, wird es ein böses Erwachen geben und keiner wird nur ansatzweise darüber nachdenken, wie „Zenit“ eigentlich geschrieben wird. Ich wette, dass unseren Kindern und Kindeskindern das genauso wenig beigebracht wird wie ein gedeihliches Miteinander.“
Wim Falkenroth

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Eine rhetorische Frage?

„Vor dem Hintergrund, dass Europa nicht einmal in der Lage ist, sich binnen fünf Jahren auf eine Abschaffung der unsäglich überflüssigen Zeitumstellung alle halbe Jahre wieder zu einigen, erscheint mir Ihre Frage bei allem gebotenen Respekt rhetorisch.“
Gregor Wies

Werte leben, nicht nur einfordern!

„Ja, der Westen überschreitet seinen Zenit, wenn er weiterhin stur und unflexibel auf seine Werte besteht. Wir müssen diese flexibel anpassen, ohne ihren Kern zu beschädigen. Auch müssen wir sie leben, was wir ja nur bedingt tun, und sie nicht überheblich und mit erhobenem Zeigefinger von anderen einfordern.“
Reinhold Prinz

Wenn auch Sie sich im Forum zu Wort melden möchten, schreiben Sie uns per E-Mail an forum@handelsblatt.com oder auf Instagram unter @handelsblatt.

Mehr: Über die Erfolgsaussichten einer Wagenknecht-Partei debattierte die Handelsblatt-Leserschaft in der vergangenen Woche. Hier eine Auswahl der Kommentare.

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