Morning Briefing Plus: Die Zensur der selbst ernannten Meinungskämpfer
Liebe Leserinnen und Leser,
wir leben in einer Zeit, in der schnell von Zäsuren die Rede ist. Doch was in den vergangenen Tagen geschehen ist, markiert tatsächlich eine solche Zäsur.
Am Dienstag wurde die Late-Night-Show von Jimmy Kimmel „auf unbestimmte Zeit“ abgesetzt – nachdem der Moderator in einem Monolog den Umgang der MAGA-Bewegung mit dem Mord an Charlie Kirk kritisiert hatte. Nicht jede seiner Äußerungen traf den Kern, aber Kimmel entlarvte in einer bissigen Analyse, wie die Bewegung versuchte, aus der Tragödie politisches Kapital zu schlagen. Dass ABC die Show daraufhin aus dem Programm nahm, sendet ein Signal, das weit über die amerikanische Medienbranche hinausreicht.
Kimmel gehört – wie Stephen Colbert, John Oliver oder Seth Meyers – zu den letzten reichweitenstarken Kritikern einer Regierung, die ihre Macht immer offener einsetzt, um unbequeme Stimmen einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen. Mit dem Ende der Show beugt sich der Sender dem Druck aus dem Trump-Lager. Und natürlich ließ die Häme des Präsidenten nicht lange auf sich warten.
Hier zeigt sich, worum es den selbst ernannten „Kämpfern für Meinungsfreiheit“ in Wahrheit geht: darum, dass am Ende nur noch ihre Stimme bleibt.
Noch Anfang des Jahres hatte Trumps Vize JD Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz gewarnt, Europa drohe in die Zensur abzurutschen. Jetzt zeigt sich, wie er und Trump Meinungsfreiheit verstehen – als ein Recht, das sie ausschließlich für sich selbst beanspruchen.
Die entscheidende Frage lautet daher nicht, ob Jimmy Kimmel zurückkehrt. Die Frage ist, wie viel von der amerikanischen Meinungsfreiheit überhaupt noch übrig bleibt. Denn längst geraten auch andere Medien ins Visier. Trump überzieht Häuser wie die „New York Times“ mit Milliardenklagen. Das Heimatschutzministerium will Visa für ausländische Korrespondenten verkürzen.
Man muss nicht alles mögen, was Journalisten schreiben oder was Kimmel und seine Kollegen sagen. Aber sie alle erfüllen eine unverzichtbare Funktion: Sie kontrollieren politische Macht.
Wo Meinungsfreiheit eingeschränkt wird, stirbt der kritische Diskurs – und mit ihm das Ringen um die besten Ideen. Damit verliert eine Demokratie ihr Herz. Passiert das, ziehen sich Menschen ins Private zurück, schweigen selbst unter Freunden über Politik, aus purer Angst vor Denunziation. So etwas kannte man bislang aus düsteren Unrechtsregimen, genau das passiert jetzt in den USA.
Viele Bücher sind darüber geschrieben worden, wie Demokratien sterben. In den Vereinigten Staaten kann man es nun in Echtzeit beobachten. Es muss nicht sofort eine Autokratie folgen – doch was droht, ist eine illiberale Demokratie.
Bei allem, was es in Europa zu kritisieren gibt, sollten wir uns auch darauf besinnen, was wir haben: freie Medien, das Ringen um Reformen, eine streitbare Zivilgesellschaft. Das kann mitunter mühsam sein. Aber wenn wir das als selbstverständlich betrachten, laufen wir Gefahr, es zu verlieren.
Was uns diese Woche sonst noch beschäftigt hat:
1. Scheinbar unaufhaltsam etabliert sich die AfD – auch im Westen, wie vergangene Woche auch die Rekordergebnisse bei der NRW-Wahl gezeigt haben. Auf Bundesebene liegt die Partei auf Augenhöhe mit der Union. Wie konnte das passieren? Und: Welche Strategien bleiben den anderen Parteien noch? Mit diesen Fragen beschäftigt sich unsere große politische Analyse zum Wochenende. Passend dazu fordert Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer im Handelsblatt neue Spielregeln im Umgang mit den Rechtspopulisten. Über die Vorschläge kann man sicher streiten. Was aber auch stimmt: Alles, was die politische Mitte bislang versucht hat, ist gescheitert.
2. Die Wände im Ministerbüro von Lars Klingbeil sind kahl. Nur ein eingerahmtes Fußballtrikot von Franz Beckenbauer, ein Geschenk von dessen Frau, hat der Vizekanzler auf eine Ablage gestellt. Für mehr Dekoration war bisher keine Zeit. So beschrieben Martin Knobbe und Jan Hildebrand das Büro des Vizekanzlers. In seinem ersten Handelsblatt-Interview erklärt Klingbeil den beiden, wie er bis zu 100 Milliarden Euro privates Kapital mobilisieren will, um die Wirtschaft in Schwung zu bringen, dass die SPD bereit ist, ein großes Reformpaket mitzutragen – und er verspricht, dass „dieses Jahr noch richtig was passiert“.
3. In der deutschen Geschichte griff nur einmal ein Kanzler zu diesem Instrument: 1956 setzte Konrad Adenauer seine Rentenreform mithilfe der Richtlinienkompetenz durch. Doch wie mein Kollege Julian Olk aus einem bislang unveröffentlichten Brief erfuhr, dürfte sich nun auch Ex-Kanzler Olaf Scholz bei einem Streit mit seinem Vize Robert Habeck einen Platz in den Geschichtsbüchern gesichert haben. Alle Details lesen Sie hier.
4. Donald Trump hat die Frist für den Verkauf der chinesischen Plattform Tiktok in den USA zum vierten Mal verlängert. Dabei verlangt bereits seit Oktober 2024 ein Gesetz den Verkauf von Tiktok an einen US-Eigentümer. Unsere Korrespondenten erklären, warum Oracle-Gründer Larry Ellison als aussichtsreichster Interessent gehandelt wird und was mit Tiktoks technologischem Trumpf, dem Algorithmus hinter der Plattform, passieren könnte.
5. Die Fed ist die mächtigste Notenbank der Welt. Ihre Entscheider sollen unabhängig sein, frei von politischem Opportunismus und Willkür. Doch mit Stephen Miran ernannte Donald Trump nun einen Loyalisten zum Fed-Gouverneur. Miran soll die Notenbank auf Linie bringen, die Zinsen senken. Doch wer ist dieser Mann, der das globale Finanzsystem auf den Kopf stellen will? Astrid Dörner und Michael Maisch nähern sich diesem streitbaren Ökonomen in einem sehr lesenswerten Porträt.
6. Schon länger kämpft Deutschlands zweitgrößter Automobilzulieferer ZF um seine Zukunft. Vergangene Woche schasste ZF seinen aktuellen Chef, Holger Klein. Doch wie kam es zu dem plötzlichen Rauswurf? Wer zog dabei die Strippen? Und welchen Plan hat der Nachfolger? Meine Kollegen haben mit zahlreichen Insidern gesprochen. Lesen Sie hier die große Rekonstruktion eines denkwürdigen Showdowns.
7. Nicht wenige Digitalexperten sehen es so: Das Internet, das wir kennen, wird es nicht mehr lange geben. Der Grund: KI wird die Art, wie wir mit der digitalen Welt interagieren, komplett verändern. Erste Anzeichen dafür gibt es bereits: Schon heute enden immer mehr Google-Suchanfragen ohne einen einzigen Klick auf externe Seiten. Wer am meisten verliert – und was das bedeutet, lesen Sie hier.
8. In den vergangenen Monaten deckte unser Investigativteam auf, wie Tesla-Manager in Grünheide krankgemeldete Mitarbeiter zu Hause kontrollierten und teils Löhne einbehielten. Die Story ging um die Welt. Nun berichten Sönke Iwersen und Michael Verfürden von internen Mails, die zeigen, wie Tesla-Führungskräfte den Druck auf Gewerkschafter und Kranke erhöhen. Tesla will künftig von angeblichen Simulanten den Lohn aus drei Jahren zurückfordern.
9. Red Bull nach dem Patriarchen: Vor drei Jahren starb Dietrich Mateschitz, einer der erfolgreichsten Unternehmer Europas. Viele zweifelten damals, dass sein Sohn Mark das Erbe schultern kann. Heute ist Red Bull stärker denn je, schreibt Rekorde, wächst weltweit. Wie konnte das gelingen? Mein Kollege Christian Wermke machte sich auf Spurensuche. Er zeigt, mit welchem Stil und welchen Strategien er den Konzern in eine neue Zeit transformiert.
Und damit wünsche ich Ihnen ein erholsames Wochenende.
Herzlichst
Ihr
Sebastian Matthes