Benachrichtigung aktivieren Dürfen wir Sie in Ihrem Browser über die wichtigsten Nachrichten des Handelsblatts informieren? Sie erhalten 2-5 Meldungen pro Tag.
Fast geschafft Erlauben Sie handelsblatt.com Ihnen Benachrichtigungen zu schicken. Dies können Sie in der Meldung Ihres Browsers bestätigen.
Benachrichtigungen erfolgreich aktiviert Wir halten Sie ab sofort über die wichtigsten Nachrichten des Handelsblatts auf dem Laufenden. Sie erhalten 2-5 Meldungen pro Tag.
Jetzt Aktivieren
Nein, danke

Coronavirus Schwedens Sonderweg stützt die Wirtschaft, kostet aber Leben

Im Vergleich mit anderen Volkswirtschaften kommt die Wirtschaft des Landes besser durch die Krise. Doch der Preis ist hoch – und die Kritik am politischen Kurs wächst.
26.08.2020 - 14:48 Uhr 3 Kommentare
Kaum eine Strategie hat in der Coronakrise international so viele Schlagzeilen gemacht wie der schwedische Sonderweg. Quelle: dpa
Menschen sitzen in Stockholm vor einem Straßencafé

Kaum eine Strategie hat in der Coronakrise international so viele Schlagzeilen gemacht wie der schwedische Sonderweg.

(Foto: dpa)

Stockholm Lisa und Johan R. sind kein gewöhnliches schwedisches Paar. Die Eltern von zwei Teenagern vertrauen dem Chef-Epidemiologen Anders Tegnell nicht mehr. Sie gehören zu jener Minderheit in Schweden, die seine sehr oft  beschwichtigenden Worte scharf kritisiert, wenn es um die Ausbreitung des Covid-19-Virus geht. 

Die laschen Vorsichtsmaßnahmen, die Tegnells Arbeitgeber, die Gesundheitsbehörde, vorschlägt, hält das Ehepaar regelrecht für gefährlich. „Nur Abstandhalten und Händewaschen reicht nicht“, klagt Johan.

Deshalb haben die beiden beschlossen, ihren eigenen, ihren ganz persönlichen schwedischen Sonderweg zu gehen. „Wir bestellen alle Lebensmittel online und lassen sie anliefern“, erzählt Lisa. „In ein Geschäft gehen wir seit März nicht mehr.“

Der schwedische Weg ohne weitreichenden Lockdown wird in ganz Europa gespannt verfolgt. Das Land kennt bis heute kaum Kontaktbeschränkungen, keine Maskenpflicht, Restaurants waren und sind offen, ebenso Fitnessstudios, Friseure und Einkaufszentren.

Die Vor- und Grundschulen bis zur neunten Klasse waren ebenfalls die ganze Zeit geöffnet, nur für Gymnasien und Erwachsenenbildungsstätten galt seit Mitte März der Fernunterricht, der durch den hohen Digitalisierungsgrad ohne größere Probleme durchgeführt werden konnte. Eltern mussten sich nicht um die kleinsten Kinder kümmern und konnten weiter arbeiten – im Büro oder im Homeoffice. Mittlerweile nehmen wieder alle Schüler am Unterricht teil.

„Alles in allem ist das sehr positiv für Schweden.“ Quelle: via REUTERS
Chef-Epidemiologen Anders Tegnell

„Alles in allem ist das sehr positiv für Schweden.“

(Foto: via REUTERS)

Die meisten Schweden stehen hinter Tegnells Kurs, doch immer mehr machen es wie Lisa und Johan und gehen auf Nummer sicher. Der Onlinehandel boomt seit der Coronakrise. Der größte Lebensmittelhändler des Landes, ICA, meldete vergangene Woche ein Umsatzplus im Onlinegeschäft von 150 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Auch andere Lebensmittelketten verzeichnen kräftige Umsatzsteigerungen.

„Wir müssen immer auch auf die Wirtschaft schauen, wir dürfen sie nicht zugrunde richten“, so hat der oberste Epidemiologe des Landes den schwedischen Weg ohne weitreichenden Lockdown verteidigt. Die Zahlen von ICA scheinen ihm recht zu geben.

Einbruch im zweiten Quartal weniger stark

Auch Schwedens Wirtschaft leidet. Das Bruttoinlandsprodukt ist im zweiten Quartal aber „nur“ um 8,3 Prozent geschrumpft im Vergleich zum Vorjahr, berechnet die schwedische Regierung. In der Euro-Zone ging es dagegen um 15 Prozent zurück. Deutschland verzeichnete ein Minus von 11,7 Prozent im Jahresvergleich.

Robert Bergqvist, Chefökonom bei der SEB hat deshalb seine im Frühjahr noch sehr düstere Wirtschaftsprognose abgemildert. Die recht lockeren Restriktionen hätten der schwedischen Wirtschaft nicht so zugesetzt wie zunächst befürchtet, schreibt Bergkvist in einer Analyse. „Es ist etwas besser, als wir gedacht haben.“

Grafik

Der Top-Ökonom rechnet mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von 3,8 Prozent in diesem Jahr. Für die Euro-Zone geht er von einem fast doppelt so hohen Minus aus. Auch Eurostat rechnet mit einem Rückgang der schwedischen Wirtschaftsleistung um 5,3 Prozent gegenüber einem Minus von 6,3 Prozent in Deutschland und 10,6 Prozent in Frankreich.

Sorgen bereitet Bergqvist aber die Arbeitslosigkeit. Ende dieses Jahres könnte sie bei 10,5 Prozent liegen und erst 2022 langsam wieder auf rund acht Prozent zurückgehen.

Einer der bekanntesten Ökonomen des Landes, der frühere wirtschaftspolitische Berater des damaligen Regierungschefs Ingmar Carlsson, Klas Eklund, betont im Gespräch mit dem Handelsblatt, dass es in Europa Länder gibt, die die Coronakrise wirtschaftlich besser bewältigt haben. „Schauen Sie auf Finnland oder Dänemark, beide haben trotz strengen Lockdowns einen niedrigeren Einbruch ihrer Wirtschaft verzeichnet.“

Eklund unterstreicht, dass es noch viel zu früh für ein Urteil über die wirtschaftlichen Konsequenzen eines Lockdowns ist. „Noch weiß man nicht, welcher Weg aus wirtschaftlicher Sicht der bessere ist.“

Die Rot-grüne-Minderheitsregierung hat bislang Milliarden an Subventionen für strauchelnde Unternehmen, Kurzarbeit-Zuschüssen und Steuererleichterungen ausgegeben. Doch der Ökonom warnt: „Schweden darf nicht nur das reparieren, was kaputtgegangen ist, sondern muss auch etwas Neues aufbauen.“

Maskenpflicht gibt es in Schweden nicht. Quelle: AFP/Getty Images
Shopping in Stockholm

Maskenpflicht gibt es in Schweden nicht.

(Foto: AFP/Getty Images)

Er fordert, dass die Regierung nach Überwindung der Coronakrise stärker auf Nachhaltigkeit setzt, „eine grüne Umstellung einleitet“. Die Mittel für Zukunftsinvestitionen sind vorhanden: Die Staatsverschuldung betrug vor der Coronakrise nur rund 35 Prozent des BIP. „Schweden muss auch aktiver in der EU werden“, sagt er. Tatsächlich ist das Exportland mit Konzernen wie Ericsson, Electrolux und Volvo extrem abhängig von seinen Absatzmärkten.

Rund 75 Prozent der Exporte gehen in die EU. Und läuft es da nicht rund, läuft es auch in Schweden nicht. Deshalb müsse sich das Land stärker für Freihandel und gegen Protektionismus einsetzen.

Mehr als 5800 Covid-Tote

Möglicherweise haben die trotz Pandemie weiterhin geöffneten Geschäfte und Restaurants tatsächlich zu einer etwas besseren wirtschaftlichen Situation beigetragen als in Ländern mit hartem Lockdown. Aber zu welchem Preis? Mehr als 5.800 Menschen sind in Schweden an und mit Covid-19 gestorben. In Deutschland – mit rund achtmal mehr Einwohnern – sind es weniger als doppelt so viele: knapp 9300 Tote.

Die Todeszahlen in Schweden seien im Vergleich zu anderen Ländern viel zu hoch, sagt Klas Eklund, um dann diplomatisch zu werden: „Ich bin Ökonom, kein Virologe.“

Trotzdem haben sich Chefepidemiologe Tegnell und seine Behörde nicht von ihrem Sonderweg abbringen lassen: Während die meisten europäischen Länder auf das Coronavirus mit restriktiven Maßnahmen wie Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen reagierten, heißt es in Schweden nur: „Haltet Abstand, wascht euch die Hände, benehmt euch verantwortungsvoll.“

Einige wenige Restriktionen gibt es: Es dürfen sich nur 50 Menschen versammeln, in Restaurants und Cafés muss ein Mindestabstand zwischen den Tischen eingehalten werden. Und bereits seit Ende März gilt ein absolutes Besuchsverbot in Alten- und Pflegeheimen.

Grafik

Trotz mehr als 5800 Corona-Toten spricht der Chefepidemiolge Tegnell, auf den sich die Regierung verlässt, von „einem positiven Trend“ in Schweden. Er verteidigt weiter den von ihm propagierten Weg der freiwilligen Selbstbeschränkung. „Die Infektionskurve zeigt nach unten. Alles in allem ist das sehr positiv für Schweden.“

Tatsächlich hatte Schweden noch im Juli eine der höchsten Corona-Todesraten weltweit, doch zuletzt meldete die Behörde nur noch niedrige einstellige Todeszahlen pro Tag. Dagegen liegen die Neuinfektionen weiterhin auf einem hohen Niveau.

Von einer Maskenpflicht hält Tegnell dennoch nichts. „Es ist direkt gefährlich zu glauben, dass Masken unser Problem lösen können“, hat er in mehreren Interviews gesagt.

Seine Aussagen haben auch in der Wissenschaftswelt zu Kopfschütteln und Protesten geführt. Zuletzt richteten 25 namhafte schwedische Wissenschaftler in der US-Zeitung „USA Today“ einen dramatischen Appell an ihre amerikanischen Kollegen: „Geht nicht den schwedischen Weg.“

Dieser schwedische Weg scheint der Wirtschaft in der Tat ein wenig geholfen zu haben – allerding zu einem hohen Preis. Für Lisa und Johan, die beide selbstständig sind, wird sich zunächst nicht viel ändern: Einkaufen per Mausklick und Homeoffice. „Bis wir einen Impfstoff haben oder die Gesundheitsbehörde endlich strengere Maßnahmen beschließt.“

Mehr: Leben mit der zweiten Welle: Infektionszahlen steigen in vielen europäischen Ländern

Startseite
Mehr zu: Coronavirus - Schwedens Sonderweg stützt die Wirtschaft, kostet aber Leben
3 Kommentare zu "Coronavirus: Schwedens Sonderweg stützt die Wirtschaft, kostet aber Leben"

Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.

  • Ich kann meinen Vor-Schreibern nur zustimmen.
    Die relativ höheren Todesfälle in Schweden sind wohl darauf zurückzuführen, weil man die Altenheime u.ä. nicht sofort ausreichen abgeschottet und geschützt hat.
    Eine Übersterblichkeit gibt es in Schweden in Gänze trotzdem nicht.

    Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten ergeben sich weitgehend auf die Lockdowns der übrigen Staaten.

    Es spricht für die Gefährlichkeit der Corona-Pandemie, wenn in Deutschland in Krankenhäusern Kurzarbeit in großem Umfang angemeldet wird und tausende von Notfallbetten leer stehen. (Ende Sarkasmus)

    Jetzt bitte nicht das Argument - bei uns sieht es so gut aus, weil wir den Lockdown hatten.
    Abstandsregelungen und Hygienevorschriften okay, Großveranstaltungen meinetwegen auch noch zur Zeit nicht abhalten - aber der Rest ist weitgehend übertrieben und nicht angemessen.

    Wer das bezahlt - bei uns und in von uns abhängigen Staaten der Dritten Welt - ist offensichtlich egal.

  • "Wir" sind ja auch (noch) ein Erste-Welt-Land. In Deutschland muss (noch) niemand hungern und schon gar nicht verhungern. Ganz anders sieht es in den Dritte-Welt-Staaten aus: dort drohen Hungerkatastrophen - nicht wegen Corona, sondern eben wegen der Shutdowns!! Daher ist die Bezeichnung "Corona-Krise" auch eine komplette Irreführung. Nicht das Virus hat die Krise verursacht, sondern die Shutdowns. Es handelt sich also um eine Shutdown-Krise, auch wenn das die Politiker nicht hören wollen.
    In den Dritte-Welt-Ländern gibt es etwa auch kein Kurzarbeitergeld, d.h. aufgrund der Shutdowns standen Millionen von Menschen von heute auf morgen auf der Straße (insbesondere im informellen Sektor) und wussten nicht mehr, wie sie sich und ihre Familien ernähren sollen. Und eine Volkswirschaft ist eine so komplexe Struktur, dass man sie nicht einfach aus- und dann wieder anschalten kann - und alles ist wie vorher. Leider, leider wird wirklich erst die Zukunft zeigen, dass die Schweden hier am vernünftigsten gehandelt haben.

  • Die Rechnung wird am Ende gemacht. Ich habe nicht die geringsten Zweifel daran, dass Schweden auf dem richtigen Weg ist, auch was die langfristige Gesamtzahl der Todesopfer betrifft - wenn man auch indirekte (wirtschaftliche) Todesopfer mit einbezieht. Von vergleichsweise deutlich höherer Lebensqualität der Gesamtbevölkerung ganz zu schweigen. Ein kurzfristiger Fokus ausschließlich auf Covid-Todeszahlen bringt niemanden weiter, aber das haben bisher die wenigsten Menschen wie auch Journalisten, sehr geehrter Herr Steuer, verstanden.

Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%