Europa-Kolumne Der Ankara-Effekt: Was Brüssel aus „Sofagate“ lernen kann

Jede Woche analysiert Moritz Koch, Leiter des Handelsblatt-Büros in Brüssel, im Wechsel mit anderen Brüsseler Korrespondenten Trends und Konflikte, Regulierungsvorhaben und Strategiekonzepte aus dem Innenleben der EU. Denn wer sich für Wirtschaft interessiert, muss wissen, was in Brüssel läuft. Sie erreichen ihn unter: [email protected]
Brüssel Nach dem verunglückten Ausflug ihres Spitzenpersonals in die Weltpolitik, im Volksmund „Sofagate“, will sich die EU jetzt wieder ihrer Kernkompetenz widmen: dem Regulieren. Wohl schon nächste Woche wird die Kommission Regeln für Künstliche Intelligenz (KI) vorschlagen, mit denen, so ist es ihrem bereits publizierten Weißbuch zu entnehmen, die EU „auf Grundlage europäischer Werte ihren eigenen Weg zur Förderung der Entwicklung und Nutzung von KI festlegen“ will.
An Selbstbewusstsein mangelt es den EU-Beamten dabei nicht – Europas Weg soll möglichst viele Nachahmer finden. Vom „Brüssel-Effekt“ ist in Brüssel gern die Rede. Gemeint ist damit, dass europäische Vorschriften dank der Bedeutung des EU-Binnenmarkts globale Reichweite entwickeln. Was Brüssel entscheidet, wird für Unternehmen auf der ganzen Welt zum Standard, die in den Genuss der Kaufkraft der Europäer und Europäerinnen kommen wollen.
Selbst Internetgiganten wie Google, Amazon und Facebook können sich Europas Regulierungslust nicht entziehen, wie die Datenschutz-Grundverordnung gezeigt hat. Dieser Erfolg soll sich bei Künstlicher Intelligenz nun wiederholen.
Der europäischen Wirtschaft allerdings wird bange ob der wachsenden Begeisterung der EU für ihre „regulatorische Macht“. In Amerika heißt es weise: Wenn man nichts als einen Hammer hat, sieht jedes Problem aus wie ein Nagel. Wer allzu stolz den Regulierungshammer schwingt, darf sich daher nicht wundern, wenn er Überregulierungsängste weckt.
Bei Künstlicher Intelligenz steht viel auf dem Spiel. KI, maschinelles Lernen auf Basis riesiger Datenmengen, ist eine Grundlagentechnologie, die in alle Bereiche der Gesellschaft eingreift. Als „neue Elektrizität“ wird sie gehandelt. Selbstfahrende Autos, vernetze Fabriken, Maschinen, die sich selbstständig warten: Darauf hoffen deutsche Unternehmen bei KI.
So weit, so vielversprechend. Doch es sind die dunklen Seiten der KI, die politisch die meiste Aufmerksamkeit erhalten. Biometrische Überwachung, Gesichts- und Bewegungserkennung könnten wie „Doping für Diktaturen“ wirken, warnt das Auswärtige Amt.
KI-Revolution braucht Hochleistungschips
Gerade auf solche „Hochrisiko-Anwendungen“ hat es die Kommission mit ihrer Regulierung abgesehen. Das ist ein guter Ansatz, aber er reicht nicht. Europa braucht mehr als Auflagen und Verbote, es braucht kluge Förderstrategien. In den USA hat die National Security Commission on Artificial Intelligence kürzlich ihre Empfehlungen vorgelegt.
Dazu zählt die Unterstützung der heimischen Halbleiter-Industrie, weil klar ist, dass die KI-Revolution ohne Hochleistungschips Science-Fiction bleibt. Und die Amerikaner belassen es nicht dabei, Studien zu erstellen, sie handeln. Das Weiße Haus hat Spitzenmanager zum Chip-Gipfel geladen, das geplante Investitionsprogramm von Präsident Biden sieht 50 Milliarden Dollar für die US-Halbleiterbranche vor.
Dieses Zur-Tat-Schreiten ist, was Europa oft fehlt. Zwar hat auch die Kommission den strategischen Wert von Halbleitern erkannt, jüngst hat sie das Ziel ausgegeben, den Marktanteil der EU zu verdoppeln. Doch Experten bezweifeln, dass es ihr gelingt, den Niedergang der europäischen Chip-Industrie zu stoppen.
Mehr zum Thema: Lesen Sie hier die erste Ausgabe der Europa-Kolumne zum Thema „Machtfaktor EU“
Dabei ist klar: Allein auf Regulierung kann sich die EU nicht stützen, wenn sie ihren globalen Gestaltungsanspruch bewahren will. Der Brüssel-Effekt nutzt sich ab: Wenn die ökonomische Bedeutung Europas schwindet, und darauf deuten viele Wirtschaftsdaten hin, verringert sich auch die Regulierungsmacht der EU.
Vielleicht könnte nun ausgerechnet die peinliche Sofagate-Posse Europa auf die Sprünge helfen, einen „Ankara-Effekt“ auslösen, wenn man so will. Denn es greift zu kurz, den Streit um die Sitzplatzhierarchie im türkischen Präsidentenpalast mit dem Profilierungsdrang der handelnden Personen zu erklären.
Vielmehr ist es die Kompetenzverschränkung, die zum Wesen der EU gehört, die Brüsseler Form der Politikverflechtung, die derartige Fehlschläge programmiert. Wer repräsentiert Europa? Wer entscheidet über Förderkonzepte? Wer definiert welche strategischen Ziele?
Darauf gibt es im Europaviertel keine eindeutigen Antworten, meistens sind alle irgendwie beteiligt. Der Sofagate-Schock könnte dazu beitragen, das Verantwortungsgewirr zu lösen und Zuständigkeiten klarer zu verteilen. Das wäre der Ankara-Effekt, den Brüssel dringend benötigt.
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