Pandemie Öffnung trotz vieler Todesopfer: Ungarn und Tschechien setzen auf das Prinzip Hoffnung

Polizisten patrouillieren im Rieger Park, in dem die Menschen das frühlingshafte Wetter genießen.
Wien 50.000 Menschen sind in Tschechien und Ungarn an oder mit Covid-19 gestorben, die allermeisten von ihnen in den vergangenen Monaten. Es ist eine schreckliche Bilanz, mit der die beiden ostmitteleuropäischen Länder zu den Staaten mit den meisten Corona-Toten gemessen an der Bevölkerungszahl zählen.
Dennoch setzen die Regierungen auf das Prinzip Hoffnung und wollen nun Öffnungsschritte vornehmen: Prag hat seit Montagmorgen Schulen und Läden wieder geöffnet sowie die nächtliche Ausgangssperre aufgehoben. Bereits seit dem Wochenende genießen die Ungarn ähnliche Lockerungen. Sie sollen den Beginn der Rückkehr zur Normalität markieren.
Auf den ersten Blick scheint die Lage in den beiden Staaten ähnlich verheerend. Doch sie befinden sich an unterschiedlichen Punkten in der dritten Welle, die Europa derzeit heimsucht. Und auch die Voraussetzungen zur Bewältigung der Krise sind äußert unterschiedlich.
So sind in Tschechien die täglichen Neuinfektionen nach sechs Monaten Lockdown jüngst stark gesunken. Am Sonntag wurden erstmals seit September weniger als 1000 neue Fälle an einem Tag verzeichnet. Auch in den Krankenhäusern, die wegen der vielen Covid-19-Patienten im März Deutschland um Hilfe bitten mussten, entspannte sich die Situation ein wenig.
In Ungarn hingegen grassiert das Virus fast ungebremst weiter. Am Dienstag forderte die Pandemie 311 Todesopfer in Zusammenhang mit Corona – ein Rekord in einem Land, das weniger als zehn Millionen Einwohner hat. Die Zahl der Neuansteckungen ist im April zurückgegangen, was die Behörden hoffen lässt, dass die Pandemiekurve stagnieren könnte. Diese Entwicklung hatte der wichtigste Berater von Ministerpräsident Viktor Orbán allerdings schon für Mitte März prognostiziert.
Orbán sprach zuletzt von einem „Krieg“ gegen das Virus, den Ungarn mit der „größten logistischen Operation in seiner Geschichte“ gewinnen werde. Seine Regierung orientiert sich nicht an den Todeszahlen, sondern setzt auf die Impfung. Die britische Virusvariante sei so ansteckend, dass sie nicht mit Einschränkungen des öffentlichen Lebens gestoppt werden könne, heißt es aus Budapest zur Begründung. Außerdem sei es wichtig, die Wirtschaft zu schützen.
Das Ziel: Im Sommer sollen genug Menschen immunisiert sein, damit wieder ein normales Leben möglich wird.
Hoffen auf die Herdenimmunität
Wegen zahlreich zugelassener Impfstoffe aus Ost und West steht Ungarn beim Impfen momentan besser da als der Rest Europas: Fast ein Drittel der Bevölkerung hat eine erste Dosis erhalten – nur in Malta liegt der Anteil noch leicht höher, in Tschechien bei weniger als der Hälfte. In Deutschland haben nach Angaben des Robert Koch-Instituts bisher fast 17 Prozent der Menschen die Erstimpfung erhalten.

Trotz der dritten Welle lockert Ungarn seine Corona-Maßnahmen.
Trotz der vergleichsweise hohen Impfquote monierte Orbán, dass sich noch mehr Menschen anmelden müssten, damit sich der Effekt der Impfungen zeige. In unabhängigen Medien sind Berichte von Ärzten zu lesen, wonach viele Patienten nach der Erstimpfung nicht wiederkommen und sich sofort danach leichtsinnig verhalten, obwohl die volle Schutzwirkung nur verzögert eintritt.
Wie verbreitet dieses Problem ist, lässt sich schwer eruieren, da die Regierung nur staatliche Medien aus den Krankenhäusern und Impfzentren berichten lässt. Probleme stellt sie in Abrede: Die Spitäler kämen gut zurecht, heißt es aus Budapest. Diese Aussagen stehen in Kontrast zu den Meldungen über die dramatische Personalknappheit und die Defizite bei Beatmungsgeräten, Testungen und Ambulanzen, die mit freiwilligen Helfern mehr schlecht als recht aufgefangen werden. Besonders besorgniserregend ist der Vorwurf, das Chaos führe zu einer hohen Anzahl von Infektionen innerhalb der Spitäler.
Gesundheitsminister treten zurück
Die hohe Sterblichkeit unterscheidet Ungarn auch von Nachbarländern wie Österreich, die aufgrund der britischen Variante zwar hohe Infektionszahlen, aber wenig Tote zu beklagen haben. Wie andere Länder, die einst hinter dem Eisernen Vorhang lagen, verfügen aber Ungarn und Tschechien über bereits vor der Pandemie vergleichsweise schwach ausgestattete Gesundheitssysteme, denen aufgrund der jahrzehntelangen Abwanderung Fachkräfte fehlen.
Und die Politik hat dazu beigetragen, sie zu verstärken: In Ungarn musste das Gesundheitspersonal einem Vertrag mit verschärften Arbeitsbedingungen zustimmen, in Tschechien traten in den letzten sechs Monaten zwei Gesundheitsminister im Streit mit dem Regierungschef Andrej Babis oder dem Präsidenten Milos Zeman über die Pandemiebekämpfung zurück.
Die personellen Wechsel sind symptomatisch für die im Vergleich mit Ungarn deutlich instabilere Regierung in Tschechien. Mangelnde Konsequenz aus hohen Infektionszahlen war die Folge: Babis verfügte im Sommer und vor Weihnachten Lockerungen, als die Zahlen bereits wieder stiegen, und er reagierte zunächst kaum auf das Auftreten der neuen Varianten zu Anfang des Jahres. Da Kranke nur eine bescheidene Entschädigung für ihren Erwerbsausfall erhielten, verheimlichten viele Tschechen ihre Infektionen.
Das Auslaufen des Ausnahmezustands in Tschechien erscheint jedenfalls weniger wie das Resultat einer nachhaltigen Entspannung denn als Mittel, innenpolitisch etwas Druck abzulassen – zumal die Reproduktionszahl jüngst wieder leicht anstieg. Regierungsparteien, Präsident und Beratungsgremien sind sich nicht nur über weitere Lockerungsschritte uneinig, sondern auch über die Impfstrategie.
Der Streit mit Zeman um den Einsatz von Sputnik V kostete den Gesundheitsminister das Amt, da Babis’ Regierung vom Wohlwollen des Präsidenten abhängt. Gleichwohl ist der Einsatz des russischen Präparats ungewiss, der Widerstand dagegen groß.
Babis bleibt ein Getriebener – ein Schicksal, das er trotz dessen deutlich größerer Machtfülle mit Orbán teilt: Die politische Zukunft von beiden ist eng mit der Bewältigung der Krise verknüpft, und auf beide warten in den nächsten zwölf Monaten nationale Wahlen mit offenem Ausgang.
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