Kommentar: Ist die „Bild“ Segen oder Fluch?

Nur eine von vielen Schlagzeilen, die Geschichte schrieb: Ein riesiges Plakat an der Fassade des Axel-Springer-Hochhauses, das Papst Benedikt XVI auf einer Titelseite der „Bild“ zeigt.
Der "Zeit"-Reporter Ulrich Stock hat die "Bild"-Zeitung einmal mit einem Jahrmarkt verglichen: "mit Schießbuden, Achterbahnen, Gruselkabinetten, Fischbrötchen, Handlesen und Hau-den-Lukas".
Am Sonntag wird "Bild" 60 Jahre alt - und noch immer ist das Blatt laut, grell, bunt - selten dumm, manchmal vulgär, gelegentlich hintergründig, schon auch mal ungerecht und verletzend, oft kreativ, häufig platt, ab und zu genial, immer unterhaltsam und niemals langweilig.
"Bild" ist das pralle Leben mit seinen Sternstunden und seinen Abgründen. Und "Bild" polarisiert - immer noch.
Für Günter Grass ist das vom Presserat meistgerügte Blatt Deutschlands ein "Instrument des Appells an die niederen Instinkte" und "regelrecht widerlich". Sein Schriftstellerkollege Max Goldt findet: "Diese Zeitung ist ein Organ der Niedertracht. Es ist falsch, sie zu lesen." "Bild"-Redakteure hält er für "schlechte Menschen, die Falsches tun".
Viele Intellektuelle und Künstler stören sich vor allem daran, dass "Bild" die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ereignisse nicht (nur) beobachtet - sondern Position bezieht und Teil des Geschehens wird. Während andere Zeitungen oft krampfhaft versuchen, nüchtern, sachlich und - scheinbar - objektiv zu erscheinen, hält sich "Bild" mit solchen Fragen nicht auf. Von Fall zu Fall kämpfte das Blatt leidenschaftlich - gegen die Studentenbewegung, für die deutsche Einheit, gegen Sozialhilfemissbrauch oder für eine deutsche Stabilitäts- und Geldwertkultur in der Euro-Krise. "Bild" deckte Skandale wie die Bonusmeilen- und die Wulff-Affäre auf oder identifizierte pointiert und treffsicher gesellschaftliche Stimmungen, beispielsweise mit der legendären Schlagzeile: "Wir sind Papst."
Und ist das nicht eigentlich viel ehrlicher, als dem Leser eine (Schein) Objektivität vorzugaukeln und dabei sogar in Meinungsbeiträgen auf Ausgewogenheit zu achten? Keine Frage: "Bild" ist einseitig, dabei aber eben auch offen und direkt. Jeder Leser weiß, unabhängig von seinem Bildungsgrad, was das Boulevard-Blatt denkt, fühlt und fordert - und doch bringt gerade diese Meinungsstärke Teile unserer linken Eliten immer wieder gegen "Bild" auf.
Im Grunde offenbart diese Kritik ein Weltbild der willenlosen, manipulierbaren Massen, die jederzeit bereit sind, jemandem hinterherzulaufen - und sei es einer Zeitung. Dieser Blick auf die Menschen lag übrigens auch dem "Proletarischen Theater" des Regisseurs Erwin Piscator zugrunde, einer Agitprop-Truppe, die in der Weimarer Republik Arbeiter zu guten Sozialisten bekehren wollte.

Wolfgang Reuter leitet das Handelsblatt-Ressort Unternehmen und Märkte
Letztlich verbirgt sich hinter dieser Haltung ein tiefgreifendes Misstrauen gegenüber der Demokratie. Zugleich zeugt sie von Arroganz. Wir wissen, so die dahinterstehende Auffassung, was gut ist für die Menschen - und was nicht.
Vielleicht ist die Aversion bei den Missionaren einer besseren, gerechteren (und für viele heißt das sozialistischen) Welt deshalb so groß, weil "Bild" sich an ihre Zielgruppe wendet. An die Objekte ihrer eigenen Aufklärungsbemühungen - die Arbeiter. Wobei der Begriff Geringverdiener heute wohl passender ist.
Axel Springer, der "Bild"-Gründer, hatte das Massenblatt einst tatsächlich für "die Masse, nicht die Intellektuellen" konzipiert. Doch "Bild" ist vor allem unter dem seit über elf Jahren amtierenden Chefredakteur Kai Diekmann weit in die Mitte der Gesellschaft gerückt. Die Menschen sind, auch durch das Internet, boulevardesker geworden - und der Boulevard salonfähig.
All das ist Ausdruck eines fundamentalen Wandels. Die Klassen-Hierarchie ist Vergangenheit - unsere Gesellschaft wird immer vielschichtiger, pluralistischer, liberaler und individueller. Das zeigt sich an den Panorama-Seiten der überregionalen Tageszeitungen. Doch nicht nur "Süddeutsche", "FAZ" und Co. üben sich zunehmend in seichteren Themen, gleichzeitig kapert "Bild" klassische Bereiche der sogenannten seriösen Presse.



Eine "Nobelpreisträger-Bibliothek", wie sie "Bild" seit einigen Monaten anbietet, hätte insbesondere der "FAZ" gut zu Gesicht gestanden. Die publizistische Aufarbeitung der Ausstellung "60 Jahre, 60 Werke" hätten viele eher in der "Zeit" vermutet - und viele Wirtschaftsführer, darunter der ehemalige Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, hätten noch vor einigen Jahren "Bild" niemals ein Interview gegeben. Der "Bild"-Leserbeirat und eine mehr auf Frauen ausgerichtete Berichterstattung tun ihr Übriges, um neue Leserschichten anzusprechen.
All das geschieht nicht nur, um die Reichweite der Zeitung von heute 12,3 Millionen zu steigern. Was keine schlechte Zahl ist, auch wenn "Bild" Anfang der 90er-Jahre 15 Millionen Leser erreichte. Damals aber gab es kein Internet - und weniger konkurrierende Medien.
Im Springer-Verlag will man offenbar, dass möglichst viele Deutsche sagen: "Wir sind Bild." In den vergangenen zehn Jahren ist das gut gelungen.






