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Krim-KriseEntpört Euch!

Der russische Präsident Wladimir Putin ist nicht der ruchlose Aggressor, den der Westen aus ihm macht. Er verteidigt die selbstverständlichen Interessen seines Landes. Ein Plädoyer für die Rückkehr zur Realpolitik.Gabor Steingart 14.03.2014 - 14:41 Uhr Artikel anhören

Russlands Präsident Wladimir Putin (rechts) mit seinem amerikanischen Amtskollegen Obama: Wenn Putin die Krim aus seiner Einflusssphäre entließe, wäre er ein Präsident auf Abruf.

Foto: dpa

Der Westen betreibt das, was die Amerikaner in lichteren Momenten "Pitbull-Politics" getauft haben: Ohne nachzudenken, geht man auf den anderen los, mit der animalischen Härte der Instinkte. Pitbull-Politics ist per Definition eine Politik mit gefletschten Zähnen, aber ohne Hirn.

In der politischen Kampfarena sieht das dann so aus: Nato-Einheiten werden an die Grenze Russlands verlegt, Wirtschaftssanktionen vorbereitet, Feuerwerke an Beschimpfungen gezündet. Die einen vergleichen Putin mit "Stalin", Hillary Clinton nennt ihn in einem Atemzug mit "Hitler". Noch zu haben sind die Verunglimpfungsdomains Graf Dracula und Kaiser Nero.

Dabei haben die Sowjetunion und dann Russland seit Michail Gorbatschow nur gemäßigte Führer hervorgebracht. Rund die Hälfte der damaligen sowjetischen Bevölkerung verließ den Einflussbereich des Kremls - darunter Litauer, Letten, Esten, Georgier, Kasachen, Moldawier und nun die Ukrainer - , ohne dass seitens der gekränkten Weltmacht zum Äußersten gegriffen wurde.

14 prowestliche Staaten sind rund um das einstige Staatsgebiet der UdSSR entstanden, zehn Staaten des ehemaligen Ostblocks sind sogar Nato-Mitglieder. Doch bis auf den kurzen Einmarsch in Georgien verlief dieser mehr als 20 Jahre währende Verfall des einstigen Großreichs ohne Blutvergießen.

Putin war immer bei denen, die das geschichtsmächtige Treiben zwar missbilligten ("größte geostrategische Katastrophe der Neuzeit"), aber gleichwohl geschehen ließen. Allenfalls versuchte er, die Erosion zu verlangsamen - zunächst in Georgien, jetzt auf der Krim. Aber als Expansionist kann man ihn nur unter Verdrehung der Tatsachen bezeichnen.

Realpolitik beginnt mit dem Anerkennen von Realitäten. Und die wichtigste Realität unserer Tage ist: Das ehemalige Sowjetreich zerfällt, und wenn es jemanden gibt, dem das physikalisch Unmögliche gelingen könnte, einen Zerfallsprozess in Stabilität zu organisieren, dann ist es Putin.

Die Krim, um nunmehr die heiße Zone der Pitbull-Politics zu betreten, gehört zu Russland wie Vermont zu den USA. Sie ist mehrheitlich russisch bewohnt. Sie ist der Stützpunkt der Schwarzmeerflotte. Von den 240 Jahren ihrer Staatlichkeit gehörte die Krim 171 Jahre zu Russland. Nur einer Wodkalaune des einstigen KP-Chefs Nikita Chruschtschow ist es zu verdanken, dass sie 1954 in das Staatsgebiet der - damals ebenfalls russisch dominierten - Ukraine wechselte.

Wenn Putin die Krim aufgibt, gibt er sich selbst auf. Seine Aggressivität ist eine politisch, militärisch und historisch notwendige, will er seinen Status als Weltmachtführer nicht verlieren. Er befindet sich heute in einer ähnlichen Situation wie John F. Kennedy im Oktober 1962, als Moskau begonnen hatte, im Vorhof der USA, auf der Karibikinsel Kuba, Atomraketen zu stationieren. Zu Recht scherte sich Kennedy nicht um die nationale Souveränität der Kubaner und zwang die Sowjetmacht mit einer spektakulären Seeblockade - von ihm als "Quarantäne" Kubas bezeichnet - zur Umkehr. Der Weltmachtstatus erfordert nun mal ein Denken in Einflusssphären. An den Grenzen einer Weltmacht darf der Rivale kein Zeltlager aufstellen. Einkreisungsängste sind im Gencode eines jeden Hegemons gespeichert. Wer die Biologie der Macht nicht akzeptiert, taugt zwar zum Kirchentagspräsidenten, aber nicht zum Realpolitiker.

Putin für diese machiavellistische Selbstverständlichkeit mit Wirtschaftssanktionen abzustrafen, ist weder erfolgversprechend noch klug. Jedes Fletschen wird mit Fletschen erwidert, auf den Biss folgt der Gegenbiss, die Pitbull-Politics bedeutet eine sich selbst verstärkende Stupidität, Kriegsgefahr inklusive.

Die Wirtschaftsbeziehungen könnten gerade in Zeiten wie diesen eine stabilisierende Rolle spielen. Europäische und amerikanische Unternehmen, die nicht nur Handelsbeziehungen zu Russland unterhalten, sondern dort auch Fabriken, Kaufhäuser und Flughäfen betreiben, sind keine getarnten Divisionen der Nato. Ihr Auftrag ist Wohlstandsmehrung zum beiderseitigen Vorteil. Russland heizt unsere Wohnstuben. Wir versorgen es mit Mähdreschern und Automobilen.

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Die Währung, die diesen Beziehungen zugrunde liegt, ist Vertrauen. Auch Lieferbeziehungen sind Beziehungen. Liefertreue ist ein Versprechen, das sich nicht nach Belieben aktivieren oder deaktivieren lässt.

Wer die russische Bevölkerung für ihren Selbsterhaltungstrieb mit Wirtschaftssanktionen abstrafen möchte, straft sich selbst ab. Hinzu kommt: Der Westen verrät sein Menschenbild, wenn er wegen einer für Sonntag angesetzten Volksabstimmung, die ein ihm missliebiges Ergebnis verspricht, mit Sanktionen droht.

Jeder Realpolitiker weiß, dass Putin die Krim nicht aus seiner Einflusssphäre entlassen kann. Wenn er es zuließe, wäre er ein Präsident auf Abruf. Und nach Putin käme nicht die lupenreine Demokratie, sondern Anarchie im Ausgehrock der Militärs. Amerika, Europa, Deutschland, Angela Merkel - wir alle wären gut beraten, nicht zuerst ihm, sondern uns selbst Einhalt zu gebieten. Der Pitbull in uns gehört wieder an die Leine.

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