Ausstellungen Wie ein Ex-Nazi sich für verfemte Kunst stark machte

Wilhelm Lehmbrucks "Große Kniende" figurierte auf der documenta 1. Doch weder Beschriftung noch Katalog machten deutlich, dass sie auf der Schau "Entarte Kunst" gebrandmarkt worden war.
Berlin Ein Hauptwerk der ambitionierten Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin ist Wilhelm Lehmbrucks Bronze „Große Kniende“. Diese Inkunabel des deutschen Expressionismus stand 1955 in der ersten „documenta“ in einer roh verputzten Rotunde des Kassler Museum Fridericianum.
Kein Wort fiel damals im Katalog über seine prominente Platzierung in der Ausstellung „Entartete Kunst“ von 1937, kein Wort über den Fußtritt, den Hitler diesem überlebensgroßen Werk beim Besuch dieser Schau verfemter Künstler gab. Aber auch zu anderen von den Nazis ausgegrenzten und angeprangerten Werken von Paula Modersohn-Becker bis Marc Chagall fehlte jeder Hinweis.
Die Zeit von 1933 bis 1945 wurde gleichsam ausgelöscht und mit ihr die Verstrickungen der meisten „arischen“ Kunsthistoriker und Kunstinterpreten in die Kunstpolitik der Nationalsozialisten. Einer von ihnen war Werner Haftmann, dem es gelang, in der Nachkriegsära seine Vergangenheit als NSDAP-Mitglied und SA-Mann geheim zuhalten und dessen Kriegsverbrechen in Italien erst in jüngster Zeit bekannt wurden.
Die Ausstellung beleuchtet seine Karriere. Sein 1954 erschienenes Standardwerk „Malerei im XX. Jahrhundert“, das neun Auflagen erlebte, zeigen ihn als Verfechter der Abstraktion, in die nach seiner Theorie die Klassische Moderne zwangsläufig münden musste. Deutsche jüdische Künstler wie Hermann Levy oder Otto Freundlich, der Protagonist einer stark farbigen Abstraktion, blieben gleichwohl draußen vor.
Im Katalogtext zur ersten documenta, die Haftmann mit den drei folgenden Schauen gemeinsam mit Arnold Bode gestaltete, charakterisiert er die Ausstellung als breiten Versuch, an die Strömungen der europäischen Länder anzuknüpfen. Die Expressionisten waren Haftmanns Aushängeschild für eine deutsche Moderne, die in die Welt wirkte und hier mit Leihgaben aus Amsterdam, Paris, Zürich, Bern, New York beglaubigt wurde. Dass Emil Nolde sich in peinlichen Annäherungsversuchen dem NS-Regime erfolglos angedient hatte, ignorierte Haftmann.
Die ersten drei Documenta-Ausgaben waren geprägt von einem starken Widerspruch: Dem Verzicht auf politische Deutung und dem Bestreben, die Freiheit der Kunst in Gesellschaft und Politik zu tragen.

Werner Haftmann (l.) und Arnold Bode haben die ersten Ausstellungen gemeinsam kuratiert. Haftmann verschleierte seine NSDAP-Mitgliedschaft. Sie wurde erst kürzlich bekannt. Credit: documenta archiv
Der politische Aspekt der Schau von 1955 war beispielhaft. Schirmherr war Bundespräsident Theodor Heuss, im Ehrenausschuss saßen sieben bundesrepublikanische Politiker und Botschafter aus neun europäischen Ländern. Die Ausstellung im DHM ist ziemlich chaotisch aufgebaut. Dokumentarisches Flachwerk erdrückt die Kunstexponate. Man findet aber Aufnahmen von Heuss im Kreis von Kunstbeflissenen, von denen die meisten die Nazi-Ära erlebt hatten.
Bei den folgenden documenta-Präsentationen wird immer wieder das politische Klima der Zeit heraufbeschworen, das sich wie eine Nabelschnur um die Ausstellungen legt. Universale Tendenzen der Westkunst wie die Abstraktion wurden hier als kultureller Richtwert im Kalten Krieg beschworen.
Die dritte documenta lieferte einen Großauftritt abstrakter Malerei und Skulptur, bestückt mit Leihgaben von nicht weniger als 67 Galerien. Wenn heute der Einfluss des Kunstmarkts auf die Kasseler Schau hervorgehoben wird, so ist das schon eine historische Erscheinung. In der Sonderschau „Aspekte 1964“ erschienen erstmals Skulpturen von Joseph Beuys aus dem Besitz der Galerie Schmela.
Die amerikanische Pop Art war dann das Leitbild der vierten Documenta 1968, die nicht mehr von Bode und Haftmann, sondern von einem 24-köpfigen documenta-Rat geprägt wurde. Aber man sollte nicht vergessen, dass hier auch Künstler wie Yves Klein, Piero Manzoni und Gotthard Graubner erschienen, deren Purismus mit den Pop-Artisten kontrastierte.
Von der fünften bis zur neunten documenta mutierte die Ausstellung von einer Werkschau zur Inszenierung. Der erste „Generalsekretär“ war der Schweizer Harald Szeemann, dessen Konzept für die d5, gestützt auf eine siebenköpfige Gruppen von Kuratoren, 16 Abteilungen zum Thema „Befragung der Realität“ installierte. Dort fehlten Beispiele von politischer Propaganda, Werbung und Trivialkunst nicht.
Die stärkste Sektion war „Persönlichen Mythologien“ gewidmet: Ein unvergesslich intensives Spielfeld von Künstlerinnen und Künstlern, die zeigten, wie verschiedenartig der Kunstbegriff sein kann. Sie beschworen mal die kühle Weltbewältigung, mal die magische Weltsicht. Etwas kopflastig war die d5 schon, mit ihrem Kilo schweren Katalog, in der Installationen die Hauptrolle spielten.

Blick in die bis Januar 2022 laufende Ausstellung über die ersten zehn, teilweise umstrittenen documenta-Präsentationen.
Als der sozialistische Realismus der DDR-Künstler Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, Willi Sitte und Werner Tübke in die 1977 von Manfred Schneckenburger gestaltete d6 Einzug hielt, gab es viele Proteste. Georg Baselitz und Markus Lüpertz zogen ihre Bilder zurück. Die beherzte Zustimmung ist als Folgewirkung von Willy Brandts Ostpolitik zu werten. Für die DDR-Künstler bedeutete das den westlichen Ritterschlag und den Einzug in die Museums-Sammlungen des Aachener Großsammlers Peter Ludwig.
1982 verzichtete der künstlerische Leiter Rudi Fuchs auf eine theoretische Konzeption der documenta7. Seine Schau war eine Parade angesagter Künstler, in der historische Entwicklungslinien gekappt wurden und Werkkomplexe einzelner Künstler auseinandergerissen wurden, um sie an verschiedenen Orten mit Werken anderer Künstler zu konfrontieren. So zum Beispiel die Malerei des Berliners Salomé mit Figuren des Amerikaners J. Borofsky, A.R. Pencks Strichmännchenbilder mit einer Stahlskulptur von John Chamberlain. Es war ein Wechselbad der Fantasie, in dem die Malerei der Neuen Wilden die Hauptrolle spielte.
Die achte documenta 1987 setzten abermals Manfred Schneckenburger und seinem Team in Szene. Sie wurde Opfer ihrer Beliebigkeit. In vielen großen und kleinteiligen Kabinetten präsentierte sich eine wie vom Zufall diktierte Aneinanderreihung von Kunst aller Richtungen: Konzeptionslosigkeit als Konzept.
Hier wurde anderthalb Jahre nach dem Tod von Joseph Beuys, der seit 1964 auf jeder documenta vertreten war und mit seiner „Honigpumpe“ (1977) und der Pflanzaktion „7000 Eichen“ (1982) die pulsierende Einheit von Kunst und Leben beschworen hatte, mit dem Environment „Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch“ eine letzte Hommage aufgebaut. Zum Wahrzeichen der nicht minder disparaten, von monumentalen Installationen geprägten documenta9 wurde Jonathan Borofskys „Himmelswanderer“, ein vor dem Fridericianum platzierter, schräg in den Himmel ragender Stab, auf dem ein Männlein nach oben schreitet.
Beherrschende Kunstformen der von Catherine David geleiteten documenta10 waren Fotografie, Film und Videoinstallationen, die Malerei und Skulptur in den Hintergrund drängten. Erstmalig wurden hier Künstler mit Werken vorgestellt, die ausschließlich für das Internet konzipiert waren, unter ihnen Martin Kippenberger, Matt Mullican, Hervé Grauman und darüber hinaus eine Phalanx von Cyberartisten, deren Namen heute keiner mehr kennt.
Hier endet die Berliner Ausstellung, und das mit einigem Recht. Denn die globalisierte Welt, die Catherine David mit ihrem Programm beschworen hatte, wurde zur Basis aller folgenden documenta-Konzepte. Das sogenannte „Museum der hundert Tage“ wurde obsolet. Die Inszenierungen uferten aus zur Weltenschau, zum Auftritt der Weltkulturen. Das Temporäre ist bis heute Trumpf. Politische Aspekte blieben präsent, aber nicht mehr als Ausdruck bundesrepublikanischer Befindlichkeit.
Als Panorama eines Zeitgeschmacks, in dem viele Künstler dank unterschwelliger Galeriearbeit zu Stars werden, hat sie eine legitime Funktion. Zugleich ist die documenta aber auch ein Sammelbecken für Künstler, deren Ruhm schnell verblasst. Wer die historischen documenta-Kataloge durchblättert, wird feststellen, dass rund 30 Prozent der Exponate von der abstrakten Kunst der Anfangszeit bis zur Multimedia-Kunst von heute verzichtbar sind. Auch das ist eine sich fortzeugende Erscheinung: die Wirkung eines vergänglichen Zeitgeschmacks, der sich auch in dieser Mammutschau manifestiert.

Arno Breker konnte 1957 für die Stadt Wuppertal die Skulptur „Pallas Athene“ realisieren. Foto: DHM/Thomas Bruns
In einer komplementären Ausstellung, die den Bogen zum Zeitgeist der ersten documenta spannt, wird die Laufbahn von Künstlern beleuchtet, die im ‚Dritten Reich‘ auf der Liste der von Hitler und Goebbels geförderten „Gottbegnadeten“ standen und nach dem Krieg ihre Karriere nahtlos fortsetzen konnten. Sie erreichten das mit einem Formen-Arsenal, das sie nahezu unverändert von den dreißiger in die siebziger Jahre trugen.
Protagonist dieser im Dritten Reich gefeierten Kunst ist Arno Breker, der in einem Interview der sechziger Jahre betonte: „Ich habe ein positives Verhältnis zum Menschen“, was die Auftraggeber aus Industrie und Politik zu schätzen wussten. Die Büsten von Konrad Adenauer, Ludwig Erhardt und dem Sammlerehepaar Ludwig zeigen ein Menschenbild, wie es vorgeprägt in den Hitler-Büsten der dreißiger Jahre war. Seinen Monumentalstil konnte Breker in der Ausgestaltung des Kölner Gerling-Konzerns in den fünfziger Jahren ausleben.
Biografien und Auftragswerke der hier vorgestellten 12 Künstler profitierten von einem der Moderne feindlich gesonnenen Klima der Nachkriegs-Jahrzehnte. Ihre Werke waren den neuen Auftraggebern willkommen. Sie blendeten einfach die Vergangenheit der ehemaligen Staatskünstler Image bestätigend aus.
Deutsches Historisches Museum, Berlin:
„Documenta I-X“ bis 9. Januar 2022
„Die Liste der ‚Gottbegnadeten‘“ bis 5. Dezember
Beide Kataloge erschienen im Prestel Verlag für 36 Euro und 20 Euro
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.