Bestsellerautor Martin Suter: „Meine Romane sind keine Glückskekse“
„Die Verhältnisse sind kritisch, nicht ich.“
Foto: picture alliance/KEYSTONEKöln. Martin Suter ist eine der großen Figuren des Literaturbetriebs. Er schreibt zuverlässig wie ein Uhrwerk einen Bestseller nach dem anderen. Beim Treffen in einer Suite im Kölner „Hotel im Wasserturm“ steht er im Gegenlicht des Fensters. Seine Silhouette ist klein und schmal, seine Haltung leicht gebeugt, er bewegt sich langsam, fast vorsichtig.
Er spricht leise und bedächtig und mit einem Schweizer Zungenschlag; man muss genau hinhören, um ihn zu verstehen. Der 69-Jährige wirkt fast so zerbrechlich, wie die Menschen in seinen Romanen zerrissen erscheinen. Es sind Figuren wie die des Obdachlosen Schoch in seinem neuen Roman „Elefant“, die sich verloren haben und neu finden oder die sich gefunden haben und wieder verlieren. Es geht immer wieder um Identität und Identitäten. Was ist Schein, und was ist Sein? Das ist eine der zentralen Fragen in seinem schriftstellerischen Werk.
So vorsichtig er auftritt, so stark ist Martin Suter in seinen Aussagen. Das Gespräch mit ihm ist sehr lebhaft. Keine Frage bringt ihn in Verlegenheit, er pariert und agiert mit Ideen, Witz und großer Offenheit. Die Vulgärpolitik der Neuen Rechten, wie er sie nennt, ekelt ihn an. Und die Schweiz, seine Heimat, sieht er über kurz oder lang in der EU. Ein politischer Schriftsteller will er aber nicht sein.
Ihr neues Buch „Elefant“ steht nach Erscheinen prompt auf Platz eins der Bestseller-Liste. Was bedeutet Ihnen dieser Erfolg?
Viel. Ich betrachte und betreibe den Beruf des Schriftstellers nicht als Selbstgespräch, sondern als Dialog. Einen Bestseller zu schreiben ist aber auch für mich nicht selbstverständlich. Es gibt da keinen Trick oder eine Garantie. Ich bin jedes Mal selbst gespannt, wie ein Buch ankommt.
Sie schreiben und sprechen in Ihren Büchern immer wieder über Identität und Identitäten. Wer sind Sie? Unternehmer oder Künstler?
Hoffentlich beides. Ich habe wie jeder Mensch viele Identitäten in mir. Manchmal überwiegt die eine, manchmal die andere. Wenn ich an einem Roman arbeite, bin ich eine Mischung aus Künstler und Handwerker. Und wenn ich meine Steuererklärung ausfülle, bin ich eher Unternehmer.
Das machen Sie bestimmt nicht selbst.
Nein, ich habe nur gerade kein besseres Beispiel gefunden.
Denken Sie beim Schreiben als Unternehmer?
Nein, das wäre fatal, das wäre mein Tod als Künstler. Vielleicht gibt es Tricks und Methoden, Bücher zu schreiben, die gut ankommen, aber solche Bücher schreibe ich nicht. Im Gegenteil: Ich versuche jedes Mal, ein ganz anderes Buch als das vorige zu schreiben. So ist „Elefant“ ein ganz anderes Buch geworden, als „Montecristo“ eines war: vom Motiv, von den Figuren, den Orten, vom Thema, von der Handlung. Wenn ich beim Schreiben ein Unternehmer wäre, würde ich versuchen, einen früheren Erfolg zu kopieren. Das mache ich aber nicht. Ich gehe mit jedem neuen Buch das Wagnis ein, dass es nicht gefällt.
Der Protagonist in Ihrem neuen Buch ist ein kleiner, rosa Elefant. Er ist ein Produkt der Gentechnologie. Warum rosa, warum ein Elefant? Warum kein blauer Tiger?
Vor zehn Jahren hat mir auf einem Alzheimerkongress in Tübingen, auf dem ich aus meinem ersten Roman „Small World“ gelesen habe, ein Forscher gesagt, dass es heute kein großes Problem wäre, einen rosaroten Mini-Elefanten herzustellen. Dieses Bild ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ich habe nie in Erwägung gezogen, daraus ein gelbes Nilpferd zu machen. Ein kleiner, rosa Elefant wäre das perfekte Luxusspielzeug, da bin ich mir sicher. Auch wenn meine Tochter – als sie klein war – die Farbe Rosa nicht mochte.
Warum erzählen Sie dessen Geschichte? Es geht Ihnen doch nicht um die Gentechnologie …
Nein, meine Romane sind keine Glückskekse mit versteckten Botschaften, die es auszupacken gilt. Ich moralisiere nicht, und ich bin auch kein Aufklärer und kein Erzieher. Ich habe als Autor keine solchen Hintergedanken oder Absichten. Ich will nur Geschichten erzählen, spannende Geschichten in einem realistischen Setting. In diesem Fall ist es die Geschichte eines kleinen, rosa Elefanten, und um diese zu erzählen, muss ich auch die Gentechnik thematisieren.
In ihrem vorletzten Buch, „Montecristo“, spiegeln Sie die Finanz- und Vertrauenskrise sowie Verschwörungstheorien. Wie kam es dazu?
Bei „Montecristo“ wollte ich die Geschichte eines jungen Mannes erzählen, der zwei Banknoten mit der gleichen Seriennummer findet. Meine Geschichten sind Fiktion, kommen aber aus der Realität. Die Leitfrage ist immer: Was wäre, wenn …? Was wäre, wenn es zwei identische Banknoten gäbe …? Was wäre, wenn es einen rosaroten Mini-Elefanten gäbe …? Meine Geschichten spielen immer vor einem realen Hintergrund, da ich daraus meine Fiktionen nachvollziehbar entwickeln kann. Das Ei war vor dem Huhn.
Wie bitte?
Ich suche nicht marketingmäßig nach einem Thema, ich gehe von einem Motiv aus, und das hat dann sein Umfeld. Am Anfang war das Ei, nicht das Huhn. In der Evolution war es aber wahrscheinlich anders.
Sie sagten jüngst, dass Sie es „pervers“ finden, dass das Thema Geld eines der letzten Tabus ist. Brechen wir dieses doch einmal! Was haben Sie für einen Vorschuss für Ihr Buch bekommen? Was verdienen Sie an und mit „Elefant“?
Habe ich tatsächlich „pervers“ gesagt? Es stört mich, wenn in der Literatur Dinge des alltäglichen Lebens ausgespart werden, weil sie in gewissen literarischen Kreisen als unliterarisch gelten. Aber ich spreche von der Literatur. Im wirklichen Leben habe ich Verständnis dafür, dass man nicht an die große Glocke hängt, wie viel man verdient. Auch dafür, dass ich es nicht tue.
Was wollen Sie als Schriftsteller leisten? Sind Sie Kritiker, Unterhalter, Aufklärer?
Weder noch. Ich bin ein möglichst genauer Beschreiber der Wirklichkeit. Nicht mehr und nicht weniger. Den Rest macht der Leser. Wenn Sie die Verhältnisse beschreiben, wie sie sind, wird es schnell kritisch. Das geht ganz automatisch. Die Verhältnisse sind kritisch, nicht ich.
Auf was spielen Sie an?
Auf alles. Wenn ich ein Buch schreibe über die Finanzwelt, dann wird das sofort kritisch. Wenn ich ein Buch schreibe über einen kleinen, gentechnisch veränderten Elefanten, dann wird das automatisch kritisch. Realismus reicht, um die Welt gesellschaftskritisch zu beschreiben. Realismus wird früher oder später politisch.
Die politische Welt scheint in Unordnung geraten zu sein. Die Wahl des Donald Trump, der Brexit, die Krise der EU: Beschäftigt Sie das? Sind Sie ein politischer Mensch?
Als Staatsbürger beschäftige ich mich sehr mit diesen Themen, als Schriftsteller nicht. Ich will und bin kein politischer Schriftsteller.
Warum nicht?
Ich finde nicht, dass der Schriftsteller ein Leuchtturm in der politischen Landschaft sein sollte. Aber auch der nächste Roman, an dem ich schon arbeite, wird sich an der Realität orientieren. Erwarten Sie aber bitte nicht die Geschichte einer syrischen Flüchtlingsfamilie in Zürich, in der ich die Flüchtlingspolitik kritisiere. Das wäre mir zu plump. Es gilt: Was wäre, wenn ...?
Ein Bestseller-Autor zu sein bedeutet Macht. Sie sind Meinungsführer. Warum nutzen Sie Ihre Stimme nicht für mehr politisches oder gesellschaftliches Engagement?
Ich mag das nicht. Ich schreibe Bücher, erzähle Geschichten, ich führe kein Land.
Tanja Kewes traf Martin Suter in einer Hotelsuite in Köln. Einige Stunden später las er auf der Lit.Cologne vor mehr als 1.000 Zuhörern aus seinem Buch „Elefant“.
Foto: HandelsblattHätten Sie gedacht, dass Donald Trump die US-Wahl gewinnt?
Unter keinen Umständen. Er ist so ein unglaublich ordinärer Mann.
Was war Ihr erster Gedanke am Morgen danach?
Wie man bei Ihnen in Deutschland sagt: Jetzt ist die Kacke am Dampfen. Das darf nicht wahr sein.
Wenn ich Sie jetzt als ehemaligen Werber frage. War „America first“ ein genialer Spruch?
Nein, der Spruch ist nicht genial, er ist so plump wie alles an Trump, und er ist alt. Es ist der älteste populistische Spruch, den es gibt. Ihn nutzen alle in ihrer Sprache: Marine Le Pen, Geert Wilders, Recep Erdogan. Es ist die gleiche Art von Vulgärpolitik, wie wir sie mit der SVP in der Schweiz haben und wie Sie sie jetzt ja auch mit der AfD in Deutschland haben. Diese vulgärpopulistische Bewegung der Neuen Rechten ist beängstigend und ekelt mich an.
Woher kommt dieser neue Nationalismus? Warum ist für viele Menschen ihre Nationalität wieder wichtiger oder identitätsstiftend geworden?
Der Neoliberalismus und die Globalisierung sind sicherlich zwei Hauptgründe. Viele Menschen fühlen sich betrogen. Dieses Gefälle zwischen Nord und Süd in der Welt ist zwar nicht neu. Doch heute nehmen es alle, der Medien und der Vernetzung sei Dank, wahr. Man weiß eben inzwischen auch im Mittleren Westen der USA, wie die Menschen auf Long Island, New York und in Los Angeles leben. Und die Menschen in Guatemala, wo ich einige Jahre gelebt habe, wissen, wie man in Europa lebt.
Als was fühlen Sie sich? Schweizer oder Weltbürger?
Schweizer, wobei der Schweizer von Natur aus Weltbürger ist. Wenn man in der Schweiz geboren ist wie ich, noch dazu lange in Basel gelebt hat und nicht auf seine Schritte achtet oder in der Tram einnickt, ist man in Frankreich oder Deutschland.
Sie haben lange im Ausland gelebt, auf Ibiza und in Guatemala. Warum sind Sie nun seit einigen Jahren zurück in Zürich?
Das hat private, keine politischen Gründe. Unsere Tochter sollte eine gute Schule besuchen, und wir wollten auch mal wieder in Theater und Museum gehen.
Steckt die Europäische Union in einer Identitätskrise? Wie sehen Sie das als Schweizer, quasi als Außenstehender?
Ich bin kein Außenstehender. Als Schweizer stecke ich schon geografisch mittendrin. Es ist ja ein Fehler vieler Schweizer, zu glauben, sie seien nicht auf Gedeih und Verderb mit Europa verbunden. Das Einzige, was wir von Europa nicht haben, sind die Vorteile. Die Nachteile haben wir alle auch. Denken Sie nur an die Kopplung unserer Währungen. Die Schweiz wird über früh oder lang auch ein Mitglied der EU werden. Wenn sich die EU in naher Zukunft nicht selbst erledigt, was ich aber nicht glaube.
In Ihren Büchern geht es immer um Menschen, die sich verloren haben und sich neu finden oder die sich gefunden haben und wieder verlieren. Wird ein Donald Trump oder eine Marine Le Pen mal eine Ihrer Romanfiguren?
Nein, als Schriftsteller verbringt man ja sehr viel Zeit mit seinen Figuren. Und mit den Genannten möchte ich wirklich keine Zeit verbringen.
Was fasziniert viele Menschen nach wie vor am guten, alten Medium Buch?
Es setzt ein Kopfkino in Gang. Das schafft kein anderes Medium. Das finde ich selbst und auch als Autor faszinierend. So würde ich zum Beispiel wahnsinnig gerne mal die Filme sehen, die in den Köpfen meiner Leser ablaufen.
Warum sind Sie als Schriftsteller so erfolgreich?
Es ist das Glück, dass ich einen ähnlichen Lesegeschmack habe, wie viele andere Menschen meiner Zeit auch. Ich schreibe einfach Bücher, die ich selbst auch gerne lese. Der erste Leser aller meiner Bücher ist übrigens kein professioneller wie ein Lektor. Es ist meine Frau. Sie ist Modedesignerin. Ich schätze ihr Urteilsvermögen und ihre Unbestechlichkeit. Ihre Kommentare arbeite ich bis auf wenige Ausnahmen ein.
Die Protagonisten in Ihren Büchern sind häufig mehr Schein als Sein. Das Thema scheint Sie seit Ihrer Zeit als Kolumnist („Business Class“) immer wieder zu beschäftigen. Was ist bei Ihnen mehr Schein als Sein?
Das sage ich Ihnen nicht. Das müssen Sie sagen! Was ist es bei Ihnen?
Das müssen Sie sagen!
Sie wirken forsch und sind wahrscheinlich schüchtern.
Herr Suter, vielen Dank für das Gespräch.