Buchtipp: Und Marx stand still in Darwins Garten: Tischgebet mit Regenwürmern und zwei Genies

Karl Marx ist im Roman die Gegenfigur des berühmten Naturforschers Charles Darwin. In dessen Garten stand der Autor von „Das Kapital“ im echten Leben aber nie.
Düsseldorf. Ein gebrechlicher Mann schaut Regenwürmern beim Koitus zu und protokolliert ihre Ausscheidung, um sich von einem Albtraum zu erholen. Der Träumer ist kein gewöhnlicher Mann, es ist Charles Darwin. In seinem Albtraum brennen Fremde sein Haus nieder. Doch anstatt sich zu fürchten, wandern seine Sorgen zu seinem Experiment mit Saubohnen, das gerade im Gewächshaus ein jähes Ende gefunden hat.
Die Geschichte von Charles Darwin, dem berühmten Naturforscher und Begründer der modernen Evolutionstheorie, beginnt im Jahr 1881 mit Saubohnen und Regenwürmern und endet 1883 mit einer Beerdigung, die nicht seine eigene sein soll. Denn der ehemalige Theologiestudent, der durch wissenschaftliche Erkenntnisse die Schöpfungsgeschichte widerlegt hatte, ist nicht die einzige Hauptfigur dieses im August erschienenen Romans.
Zwei alte, kranke Männer
Die Gegenfigur, die Autorin Ilona Jerger zu Darwin zeichnet, ist Karl Marx, Autor von „Das Kapital“ und Prophet der kommunistischen Revolution.
Auf 288 Seiten porträtiert Jerger in ihrem Roman „Und Marx stand still in Darwins Garten“ zwei alte, kranke Männer und zugleich die größten Denker des 19. Jahrhunderts, die die Weltgeschichte für immer veränderten. Es geht um die inneren Leidenswege der beiden, deren berühmteste Werke im Regal des jeweils anderen standen. Doch nur einer hat das Buch des anderen gelesen.
Weil Darwin und Marx in London jahrelang 20 Meilen voneinander entfernt wohnten, sich aber nie trafen, sind naturgemäß Teile in Jergers Werk fiktiv – vor allem die titelbringende Begegnung beider.
Viele Passagen aber basieren auf ihren Recherchen in Tausenden Briefen und Mitschriften, von denen sie sich auch in der Sprache ihres Romans inspirieren ließ. Die Journalistin verbindet ihre eigene Erzählweise mit denen von Marx und Darwin, lässt Ausdrücke wie „Morgentoilette“ und „Chaiselongue“ einfließen oder schreibt über Buchbände in ihrer „ursprünglichen kalbsledernen Schönheit“.
Jergers Buch liest sich dabei mehr wie eine historische Nacherzählung als ein Roman, ist aber für Laien nicht nur verständlich, sondern richtig angenehm zu lesen. Selbst wenn die Figuren das Paradies als Ausweg des Todes oder eine Gesellschaft ohne Unterdrückung diskutieren. Angenehm, weil es informativ und unterhaltsam ist, berührend und belustigend, und das trotz der langen Gedankenströme, die den Leser manchmal ins Leere führen.
Wer diese Passagen nicht als Zeitverschwendung betrachtet, dürfte dankbar sein für die Erholung fürs Gehirn – vor allem angesichts der Informationsflut aus Historie und politischer sowie theologischer Kontroverse.
Hätten Marx und Darwin an einem Tisch gesessen, was hätten sie „miteinander zu verhandeln“ gehabt? Die Begegnung der beiden Männer kommt plötzlich, ungefähr in der Mitte der Handlung. Vorher findet ein Kontakt nur über den ebenfalls fiktiven gemeinsamen Arzt Dr. Beckett statt. Beckett ist Erzähler und poetischer Eindringling zugleich.
Furunkel, Übelkeit, Kopfschmerzen
Er sorgt dafür, dass die Hauptfiguren die Gegenwart und das Vergangene reflektieren. Marx in altkluger Weisheit über Gesellschaft und Politik, Darwin mehr in Zerrissenheit darüber, was er geschaffen und was er versäumt hatte. Was sie in jedem Gespräch teilen, sind ihre Krankheiten: Furunkel, Übelkeit, Kopfschmerzen.
Das Aufeinandertreffen endet in einem Eklat. Während Darwin minutenlang über seine Experimente mit Regenwürmern monologisiert, geht seine gläubige Frau auf Konfrontationskurs zu Marx. Ein Tischgebet eines Ungläubigen? Da kippt sogar der anwesende Pastor ohnmächtig vom Stuhl.
Das eigentliche Gespräch der beiden Protagonisten findet dann im Garten des Gastgebers statt. „Nach einer ganzen Weile sagte Darwin: ‚Mir scheint, Sie sind ein Idealist.’“


Und die Regenwürmer wühlen weiter in der Erde
Doch anstatt loszupoltern, Marx „hasste Idealisten“, stand dieser still in Darwins Garten. Das Ende dieser Szene ist nicht das Ende des Buchs, was Jergers Werk Reiz verleiht.
Auf den folgenden 100 Seiten geht es dann noch viel weiter in die Tiefe: Jemand sinniert, jemand spaziert, jemand stirbt. Und das, während Darwins Regenwürmer weiter in der Erde wühlen.










