Corporate Collection: Die Firmensammlung der LBBW: Kunst sammeln, um die eigene Zeit zu verstehen

Die Fotomontage "Playboy on View, aus der Serie House Beautiful: Bringing the War Home" entstand vor dem Hintergrund des Vietnam-Krieges 1967/72 (Ausschnitt).
Düsseldorf. Firmensammlungen gibt es viele, doch Corporate Collections mit einem mutigen Profil nur wenige. Vorstandsvorsitzende bevorzugen in der Regel Kunst, die nicht wehtut, gut ausschaut und beim Kunden keine unangenehmen Fragen weckt. Ganz anders die Sammlung der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), die 1971 mit einem regelmäßigen Ankaufsetat für die Galerie der Städtischen Spar- und Girokasse Stuttgart begann, eine ihrer zahlreichen Vorgängerinstitutionen.
„Das Profil der Sammlung ist bestimmt von der Teilhabe am politischen Diskurs,“ sagt Lutz Casper, seit 1999 Leiter der Kunstsammlung der LBBW. „Deshalb gab es nie Denkverbote vom Vorstand den Kunstankäufen gegenüber.“
Und so zeigt die große Jubiläumsausstellung zur Gründung vor 50 Jahren auf drei Etagen im Kunstmuseum Stuttgart unter dem Titel „Jetzt oder nie“ jede Menge Erstaunliches aus 120 Jahren Kunstgeschichte. Arbeiten, die ihre jeweilige Entstehungszeit kritisch reflektieren, Krieg und Hoffnungslosigkeit anprangern oder Disruptionen von heute spürbar werden lassen.
Sie beginnt mit zwei Meisterwerken von Otto Dix, die Erbe und Ambivalenz der Weimarer Zeit pointiert auf den Punkt bringen. Der schonungslos anklagende „Grabenkrieg“ einerseits und die kokainsüchtige Tänzerin Anita Berber im roten Kleid andererseits. Als dieses weltberühmte Bild vom Tanz auf dem Vulkan 2005 zum Verkauf stand, hätte es die finanziellen Mittel des Kunstmuseums Stuttgart, dem langjährigen Partner der Bank, überfordert. „2006 wurde ‚Anita Berber‘ von der LBBW erworben und dem Museum als Leihgabe zur Verfügung gestellt,“ so Casper im Gespräch mit dem Handelsblatt.
Eine strenge Chronologie durchkreuzt der Ausstellungs-Parcours immer wieder gekonnt, wenn bestimmte Motive Berührungspunkte herstellen. Wenn etwa in der ersten Etage mit Kunst aus der konfliktreichen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch Anselm Kiefers Großformat „Gefallener Wald“ von 1980 hängt. Diese Metapher für Verwüstung durch den Krieg konnte die Bank Mitte der 1990er-Jahre aus Privatbesitz erwerben.

Die unbehauste Figur auf dem 1997 entstandenen Ölbild „Craig hooded“ ist ein vertrauter Anblick heute (Ausschnitt).
Ihren Höhepunkt findet die Ausstellung im zweiten Stock. Dort geht es um Revolten gegen den Vietnam-Krieg, aber auch um die Spur der Verwüstung, die die terroristische Vereinigung Rote Armee Fraktion (RAF) hinterließ. Mehrere Arbeiten rund um Ideologie und Scheitern der RAF erhellen sich gegenseitig. Casper erinnert daran, dass „die Rote Armee Fraktion ein zentrales Kapitel in der westdeutschen Politik und Gesellschaft bestimmt, insbesondere im Stuttgarter Raum.“
Der Kurator hat Georg Herolds aus Beluga-Kaviar gefertigtes Porträt von „H. Meins“ mit dem über fünf Meter langen Gemälde „Kaufhausbrand“ von Franz Ackermann in einen Raum gestellt. Dazu Ackermanns Skulptur „Helikopter 21“ und Thomas Demands fotografisch rekonstruierte „Offensive 1977“. Das Foto „Attempt“ zeigt einen Raketenwerfer, der der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gegolten, aber nicht gezündet hatte.
Der LBBW-Parcours zeigt mehr Kunst, die alte Wunden aufdeckt, als Kunst, die sich selbstvergessen mit Farben und Formen ganz ihrer Materialität widmet, wie es zunächst Adolf Hölzel und später Georg Karl Pfahler und Anton Stankowski taten.
Haltungen in den Kontext gesellschaftlicher Debatten stellen
Unter den großen Firmensammlungen halten nur zwei dem Vergleich mit dem politischen Konzept der LBBW-Sammlung stand. Die Collection der Deutschen Börse und die des österreichischen Energieerzeugers Verbund. Doch die erste konzentriert sich programmatisch auf ein einziges Medium, die Fotografie. Die zweite ist zwar medienübergreifend angelegt, wie die Sammlung der LBBW, doch in Wien dreht sich alles ausschließlich um die feministische Kunst ab 1960.
Die LBBW hat zur feministischen Kunst zwar ein paar wichtige Positionen, etwa von Martha Rosler, Cindy Sherman, Rosemarie Trockel und Carina Brandes. Doch sie will diese Haltungen in einen größeren Kontext gesellschaftlicher Debatten von heute stellen.
Das Sammlungskonzept ist nach vorne gerichtet. „Als die Vorgängerinstitution 1993 Baselitz‘ Frühwerk ‚Drei Streifen. Der Jäger‘ aus dem Jahr 1967 erwerben konnte, kaufte sie zeitgleich Arbeiten von ganz jungen Künstlern mit Potenzial,“ erläutert Lutz Casper. Und belegt das mit Arbeiten von den damals aufstrebenden Künstlern: Tobias Rehberger, Franz Ackermann, Wolfgang Tillmans oder Michel Majerus. Waren es früher einzelne Museumsdirektorinnen und -direktoren, die berieten, lässt sich die LBBW heute von einem Beirat unterstützen.
Der Leitgedanke, nicht retrospektiv zu sammeln, heißt anders formuliert, zu kaufen, wenn Künstlerinnen und Künstler starten oder maximal in der Mitte ihrer Karriere angekommen sind. Das hat einen unschlagbaren Vorteil: Die Preise, die aufgerufen werden, sind noch erreichbar. So kamen die ersten Fotografien von Andreas Gursky schon 1989 in die Sammlung, 1998 folgte, ein Jahr nach ihrer Entstehung, die Fotografie von der Chicagoer Börse zu einem noch moderaten Preis.
Im dritten Stock präsentiert die Schau Kunst nach dem Anschlag von 9/11 bis 2021. Für die neu aufkommende Lust an figurativer Malerei steht beispielhaft das Porträt „Craig hooded“ von Elizabeth Peyton.
Neben Malerei und Fotografie besitzt die LBBW auch eine Reihe von Videos, nicht eben typisch für ein Finanzinstitut „Schon seit Mitte der 1990er-Jahre werden Videoarbeiten angekauft,“ berichtet Kurator Casper.
Zu den Video-Arbeiten von Christian Jankowski, Pipilotti Rist und Simone Westerwinter kamen jüngst noch zeitbasierte Kunstwerke von Anna Witt, Julian Charrière und Julius von Bismarck hinzu. Letztere spüren in ihrer Videoarbeit „In the Real World It Doesn’t Happen that Perfectly“ sogenannten Fake News und bedrohten indigenen Gemeinschaften nach.
Weil die Landesbank Baden-Württemberg etliche Geldhäuser übernommen hat, flossen ein halbes Dutzend Kunstsammlungen in die Corporate Collection. Sie umfasst rund 16.000 Kunstwerke. Lutz Casper: „Heute ruht sie auf zwei Säulen. Der Kunstsammlung der LBBW mit rund 3.000 kuratorisch ausgewählten Kunstwerken und der Artothek mit rund 13.000 Grafiken und Editionen für die Büros der Mitarbeiter.“
Sogar zur Pandemie gibt es schon Bilder


Die wertvolle Kernsammlung der LBBW ist nahe am Puls der Zeit. Sie spiegelt die Gegenwart mehrerer Epochen mit Höhen und Tiefen. Sogar zur Corona-Pandemie gibt es schon Bilder. Die Vorgängersammlung der Südwest LB hatte bereits „Epidemien“ erworben, eine Serie von Farbfotografien von Bernhard Prinz. 1992 belichtete Prinz aggressiv wuchernde Pflanzen in Nahaufnahmen, so dass die typologische Reihe im Betrachter Grusel und Abwehr erzeugt.
Gemeinsam mit Anne-Kathrin Segler vom Kunstmuseum Stuttgart ist eine anspruchsvolle Ausstellung entstanden, die bis 20. Februar unter Beachtung der 2G+-Regel besucht werden kann. Der Katalog hat drei Bände, analog zu den drei Ausstellungsetagen im Kunstmuseum Stuttgart. Trotz der Opulenz verzichtet er leider auf ein Künstlerregister und die – für die LBBW schmeichelhaften – meist frühen Erwerbungsdaten der Kunstwerke. Dass der Katalog eher Tablebook sein will als Kompendium, ist ein winziger Wermutstropfen in einer Jubiläumsausstellung, die jeden Betrachter das Staunen lehrt.
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