Rezension: „Handbuch Werkverzeichnis“: Die Zeit der Zuschreibungspäpste ist vorbei

Das von der Universität von Maryland betreute Werkverzeichnis basiert auf kollaborativer Forschung.
München. Gerhard Richter hat es selbst in die Hand genommen. Mit der Schreibmaschine tippte er 1969 Titel, Jahr und Größe von 243 seiner Werke auf ein Stück Papier. Mit 88 Jahren hat er 2019 die Nummer 957 vergeben und sein malerisches Werk für beendet erklärt.
Dietmar Elger, später Herausgeber und Verfasser des kommentierten Werkverzeichnisses wurde, sieht die vom Maler festgelegte Systematik im gerade erschienenen „Handbuch Werkverzeichnis, Oeuvrekatalog, Catalogue Raisonné“ durchaus kritisch. Herausragende Werke sind mit Unternummern versehen, einzelne Bilder von Werkgruppen sind hingegen in Hauptnummern aufgeteilt.
Richter zeigt es, ein Oeuvrekatalog ist ein grundlegendes, aber kein neutrales Kompendium. Es geht häufig um Deutungshoheit. Da wird Wertigkeit verhandelt, werden Eingrenzungen und Bedeutung fixiert, auch wenn in der Regel Wissenschaftler die Feder führen. Das ist eine der Kernaussagen dieses vielschichtigen Bandes, der sich sowohl an Kunsthistoriker als auch an Händler und Sammler wendet.
Als wissenschaftliche Gattung hat das Werkverzeichnis einschneidende Veränderungen erlebt. Die Zeit der Zuschreibungspäpste ist vorbei. Die Hermetik des Gedruckten verwandelt sich in komplexe digitale Wissensspeicher. Die umfassende Herangehensweise ist ein wichtiges Merkmal in Zeiten der Digitalisierung. Die Verlinkung zu Datenbanken von Institutionen sind nicht nur möglich, sondern wissenschaftlicher Standard.
Ein Beispiel dafür ist das hybride Werkverzeichnis Johannes Ittens. Gemälde und Zeichnungen, Biographie und ein Verzeichnis der Druckgrafik liegen weiterhin in Printform vor, während andere Dokumente wie etwa 2000 Seiten aus seinen Skizzenbüchern, Aufsätzen von und über den Bauhauskünstler über die Plattform www.arthistoricum.net abrufbar sind.

Nie war Recherche für Wissenschaftler, aber auch Marktteilnehmer leichter als in diesen komplexen, multiperspektivischen Werkverzeichnissen im Open Data-Format. Ihr Wertgewinn gegenüber Printversionen liegt in der permanenten Wissenserweiterung.
Werkverzeichnisse großer Meister entstehen heute interdisziplinär wie etwa das Cranach Digital Archive, das 2012 online gegangen ist. Allein die 21 Varianten des Gemäldes „Das ungleiche Paar“ verdeutlichen die Variationsbreite Cranachs und seiner Mitarbeiter und lassen Schlüsse auf Authentizität anderer Werke zu. Auf kollaborativer Forschung basiert auch der komplette Online-Werkkatalog der Universität von Maryland zu Jan Brueghel.
Die Bezeichnung Handbuch verdient sich der gut zu lesende Band allerdings durch spezifische Betrachtungen zu Verzeichnissen bestimmter Gattungen, wie etwa der Fotografie. Das noch relativ junge Kunstmedium besitzt kein manifestiertes Original, sondern ein Ursprungsmotiv wie das Negativ oder die Masterdatei, so Siegfried B. Schäfer in seinem Aufsatz.
Interessen des Kunsthandels
Nicht wenige Autoren spielen auf die Rolle des Kunsthandels an. Die Nähe zu lebenden Künstlern und das Involviertsein in die Vermarktung von Nachlässen bedingt und befördert ihr Interesse an der Herausgabe von Oeuvrekatalogen. Besitzt das fundierte Faktenspektrum doch Autorität und hat durchaus preisgestalterische Wirkung. Die Marian Goodman Gallery etwa hat unlängst das sechsteilige Werkverzeichnis zu John Baldessari herausgegeben. Gagosian widmet sich gerade dem Oeuvre von Balthus.
Werkverzeichnisse klären Fragen nach Auflagen, posthumen Güssen oder Werkwiederholungen. Eine größere Relevanz haben Provenienzen bekommen. Nicht im Sinne einer Nobilitierung, sondern auch im Hinblick auf eindeutige Zuordnungen.
KI-Kunst und die Erosion des Werkbegriffs
Und noch etwas ist anders als zur Zeit von Edme-François Gersaint, der 1751 den ersten Catalogue Raisonné zum Werk von Rembrandt verfasste. Progressive Kunstformen erfordern eine neue Definition des Originals und neue Kategorisierungsstrukturen. Konzeptkunst, Performances, auch zeitbasierte Werke wie Videos sind schwer in der üblichen Form wiederzugeben und meist nur über Dokumentationen und Beschreibungen zu erfassen.


Noch schwieriger wird es mit NFTs, Blockchains und mit KI-Kunst, deren kreativer Kern nicht selten die Programmierung darstellt. In diesem Zusammenhang wird Wolfgang Ullrichs These von der Erosion des Werkbegriffs zitiert. Zu Recht, denn noch ist unklar, wie Werkverzeichnisse für KI-Kunst aussehen könnten.
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