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GastkommentarAnteilseignern droht massiver Machtverlust

Der Entwurf des Justizministeriums für die virtuelle Hauptversammlung verabschiedet sich vom Kern der Aktionärs-Demokratie, rügt Marc Tüngler. 21.03.2022 - 10:00 Uhr Artikel anhören

Der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) sieht die Neuregelung der virtuellen HVs kritisch.

Foto: dpa

Die Hauptversammlung (HV) ist für Aktionäre die zentrale Veranstaltung des Jahres. An diesem Tag stimmen die Anteilseigner nicht nur über Tagesordnungspunkte wie etwa die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat oder Gewinnverwendung und Vorstandsvergütung ab. An diesem Tag können sie auch direkt Fragen an den Vorstand richten und haben ein Recht auf Auskunft. Für die Eigentümer und besonders für Privatanleger ist die HV damit der einzige Termin, an dem das Management ihnen direkt Rede und Antwort stehen muss.

Das ist für Vorstände und Aufsichtsräte natürlich nicht immer angenehm – gleichzeitig ist es aber auch eine Selbstverständlichkeit. Die meisten börsennotierten Gesellschaften können sie mit überschaubarem zeitlichen und finanziellen Aufwand bewältigen. Im Zeichen der Coronapandemie hat sich das dramatisch verändert. Da Präsenzversammlungen wegen des Infektionsrisikos nicht mehr möglich waren, erlaubte der Gesetzgeber zeitlich beschränkt rein virtuelle Aktionärstreffen mit deutlich eingeschränkten Frage-, Rede- und Anfechtungsrechten.

Ein Zustand, an dem so mancher Emittent nur zu gerne festhalten würde. Allerdings sind die Signale pro virtuelle HV aus der Wirtschaft widersprüchlich. Nach Einschätzung der Investorenvertreter plant die Mehrheit der Gesellschaften, zur Präsenz-Hauptversammlung zurückzukehren, sobald die Pandemielage das zulässt. Positives Beispiel hierfür ist die Deutsche Telekom. Das Unternehmen wird seine Hauptversammlung am 7. April 2022 als Präsenzveranstaltung abhalten – und zwar nicht rein virtuell, obwohl das nach der Gesetzeslage noch bis Ende August erlaubt wäre.

Fragen werden nur eingeschränkt zugelassen

Trotzdem will der Gesetzgeber die rein virtuelle HV auch für die Zeit nach der Pandemie ermöglichen. Das Bundesjustizministerium legte unlängst einen Referentenentwurf vor, der eine Menge Staub aufgewirbelt hat, obwohl die Grundidee bereits im Koalitionsvertrag festgeschrieben worden war. Dort heißt es aber auch, dass auf einer virtuellen HV die Aktionärsrechte uneingeschränkt gewahrt werden sollen, anders als es unter dem Corona-Notstandsgesetz der Fall war. Diesem Anspruch wird der Entwurf allerdings trotz einiger positiver Punkte nicht gerecht. Aktionäre erhalten nicht die Rechte zurück, die das Aktiengesetz für die Präsenzversammlung vorsieht.
Zwar sollen das Auskunfts- und Anfechtungsrecht nahezu unberührt bleiben und auch das Fragerecht soll nicht an bestimmte Beteiligungshöhen geknüpft werden. Gleichzeitig ist es aber mehr als fraglich, ob die vorgeschlagenen Werkzeuge für die virtuelle HV die notwendige Interaktion zwischen Aktionären und Unternehmen ermöglichen. Denn vieles deutet darauf hin, dass eine Umsetzung des Entwurfs die Machtarchitektur zum Nachteil der Anteilseigner verändern würde – auch wenn verschiedene Live-Elemente die virtuelle HV aufwerten sollen. Aber die Live-Elemente werden auf reine Redebeiträge reduziert, Fragen nur sehr eingeschränkt zugelassen.

Das führt zu beziehungslos hintereinandergeschalteten Monologen, also dem Gegenteil von offenem Austausch und Dialog. Ein konstruktiver Dialog ist nur möglich, wenn im Rahmen der Live-Redebeiträge auch Fragen gestellt werden können. Nur dann hätte der Redebeitrag Einfluss auf den weiteren Verlauf der HV, nur dann würde er von Vorstand und Aufsichtsrat wirklich wahrgenommen. Doch genau diese unmittelbare Interaktion zwischen Eigentümern und Management sieht der Entwurf des Justizministeriums nicht vor.

Entkernung der Hauptversammlung

Außerdem soll das originäre Fragerecht ins Vorfeld der HV verlagert werden, was eine weitgehende Entkernung der Versammlung zur Folge hätte und die Privatanleger im Verhältnis zu institutionellen Anlegern weiter benachteiligen würde. Privatanleger können ja nur auf der HV in einen direkten Austausch mit der Unternehmensleitung kommen. Als Ausgleich für diesen gravierenden Nachteil sieht der Entwurf ein Nachfragerecht auf der virtuellen HV vor – das sich aber ausschließlich auf vorher eingereichte Fragen bezieht. Fragen zu neuen oder anderen Themen sind ebenso wenig möglich wie Anmerkungen zu Aspekten, die von anderen Aktionären vorgetragen wurden.

Das wäre das Ende der Generaldebatte, die ein Kernpunkt der im Aktienrecht vorgesehenen Machtbalance zwischen den Beteiligten ist. Ohne diese Debatte rücken eine lebendige Aktionärsdemokratie und gute Corporate Governance in weite Ferne. Nicht akzeptabel ist auch, dass das rein virtuelle Format ohne Ausnahme möglich sein soll. Sobald fundamentale Rechte der Aktionäre oder für das Unternehmen wesentliche Entscheidungen betroffen sind, ist dieses Format ungeeignet – beispielsweise bei Hauptversammlungen, auf deren Tagesordnung komplexe, die Eigentumsposition der Aktionäre essenziell berührende Beschlussvorschläge wie Squeeze-outs stehen.

In solchen Fällen erscheint eine umfassende Unterrichtung der Aktionäre zwingend geboten. Zusammenfassend lässt sich sagen: Der vorliegende Referentenentwurf wird den Anforderungen der Aktionärsdemokratie nicht gerecht. Insbesondere Privatinvestoren haben, anders als institutionelle Anleger, keine Möglichkeit, mit dem Management außerhalb der HV ins direkte Gespräch zu kommen. Wobei darunter nicht nur klassische Privatanleger fallen, sondern beispielsweise auch Family Offices und Vermögensverwalter.

Die Zahlen sprechen eine andere Sprache

Warum aber hat sich das Justizministerium bei der Formulierung des Entwurfs so weit von den Vorstellungen vieler Investoren entfernt? Ein Grund könnte sein, dass die bisherigen Erfahrungen mit rein virtuellen Hauptversammlungen viel zu optimistisch interpretiert werden. So führt die Emittentenseite immer wieder ins Feld, die Präsenzen auf den Aktionärstreffen hätten sich wegen der einfacheren, virtuellen Teilnahmemöglichkeit erhöht.
Das mag zunächst zwar plausibel klingen, die Zahlen aber sprechen eine andere Sprache: Die durchschnittliche HV-Präsenz der Dax-Konzerne lag im vergangenen Jahr bei 66,7 Prozent der stimmberechtigten Aktien – 2020 waren es 67,4 Prozent und 2019 exakt 66,2 Prozent. Ein Trend nach oben sieht anders aus. Auch die Behauptung, die Qualität der Antworten wäre durch den Zwang, Fragen vorab schriftlich einzureichen, besser geworden, hält einer Prüfung nicht stand. Hinzu kommt, dass eine Reaktion auf aktuelle Entwicklungen, etwa wenn das Ergebnis des ersten Quartals am Tag vor der HV veröffentlicht wurde, nicht mehr möglich wäre.

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Fazit: Die virtuelle Hauptversammlung hat sich bisher nicht bewährt. Der Gesetzesentwurf böte nur dann eine gute Basis, wenn die Emittenten bereit wären, den Aktionären freiwillig mehr Rechte anzubieten. Das haben sie aber schon ohne echtes Anfechtungsrisiko nicht getan und werden es bei der im Entwurf vorgesehenen Reaktivierung des Anfechtungsrechts erst recht nicht tun. Deshalb muss das Justizministerium jetzt ein klares und anlegerorientiertes Paket im Geiste des Koalitionsvertrags schnüren.

Der Autor: Marc Tüngler ist Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz und Mitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex.

Mehr: Fondsverband BVI lehnt Gesetzentwurf zur virtuellen Hauptversammlung ab.

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