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Gastkommentar Das deutsche Digital-Desaster

Deutschland sollte in der Lage sein, seine Bevölkerung durch konsequentes Impfen vor den Folgen der Pandemie zu schützen. Doch das scheint zu viel verlangt, rügt Miriam Meckel.
30.03.2021 - 04:00 Uhr 1 Kommentar
Die Autorin ist deutsche Publizistin und Unternehmerin. Sie ist Mitgründerin und CEO der ada Learning GmbH. Außerdem lehrt sie als Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen. Quelle: Frank Beer [M]
Miriam Meckel

Die Autorin ist deutsche Publizistin und Unternehmerin. Sie ist Mitgründerin und CEO der ada Learning GmbH. Außerdem lehrt sie als Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen.

(Foto: Frank Beer [M])

Ein Jahr nach Beginn der Lockdown-Zeit will die Bundesbildungsministerin die Pandemie weiter einfach weglüften. Für die Schulen paart sich Ideenlosigkeit mit dem Versagen des Bildungsföderalismus. Das Ergebnis verzinst sich negativ auf dem Chancenkonto der jungen Generation.

Es ist nicht mal böser Wille, der uns in diese Lage bringt. Es gibt vielmehr ein systemisches Problem, das Ergebnis von versäumten Jahrzehnten, in denen Innovationen und Veränderungen weitgehend ausgeblieben sind. Während andere Länder konsequent in die digitale Infrastruktur und die Modernisierung des Staates investierten, hat sich Deutschland auf seinen Lorbeeren bürokratischer Effizienz und tüftlerischen Erfindergeists ausgeruht.

Die Lorbeeren wurden in Zeiten Otto von Bismarcks und Max Webers zu Kränzen geflochten, mit denen andere sich einst gerne geschmückt hätten. Heute hingegen zeigt man in den USA, Großbritannien und vielen asiatischen Staaten eher mitleidig auf uns: Schaut, wie man es nicht macht! Wenn Bürokratie, wie Max Weber einst formulierte, ein „Instrument rationaler Herrschaftsausübung“ ist, dann stimmt schon länger etwas nicht mehr mit der „Herrschaft“, denn „rational“ ist daran nur noch wenig.

In Deutschland fehlt seit vielen Jahren der politische Wille, die Transformation von Politik und Verwaltung mit Blick auf das digitale Zeitalter konsequent umzusetzen. Das fällt nicht auf, wenn die Zeiten gut und die Probleme überschaubar sind. In solchen Zeiten aber leben wir in der Pandemie gerade nicht. Jetzt wird der Amtsschimmel entlarvt: Er ist kein Tier mehr, das gelegentlich etwas starrsinnig auf die Einhaltung von Regeln pocht, sondern der weiß-bläuliche, modrige Belag, der sich auf allem bildet, was zu lange links liegen gelassen wurde.

Dabei ist Deutschland eigentlich richtig gut im Erfinden. So hatten das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung und das Robert Koch-Institut mit „Sormas“ schon zu Beginn der Pandemie eine digitale Plattform zur Vernetzung der Gesundheitsämter entwickelt. Im vergangenen November entschieden die Ministerpräsidenten und das Bundeskanzleramt dann endlich, „Sormas“ in Deutschland einzusetzen. Da war die Plattform längst in anderen Ländern erfolgreich in Betrieb, beispielsweise in Nigeria und Ghana.

Doch bei uns sind immer noch etwa drei Viertel der Ämter außen vor. Die Gründe reichen vom Aufwand der Installation über mangelnde Kompatibilität mit veralteten IT-Systemen bis zu schlichter Verweigerungshaltung. Die Pandemie zeigt: Lehren aus der Abkoppelung von Erfinden und Vermarkten, die schon bei Faxgerät, MP3-Player und Bilderkennungsalgorithmen das Problem war, haben wir immer noch nicht gezogen.

In einigen Bundesländern scheiterten Bürgerinnen und Bürger tagelang bei der verzweifelten Suche nach einem Impftermin an Anmeldewebseiten, die entweder zusammenbrachen, Programmierfehler aufwiesen und schon gar keine Terminierung eines Impftermins zuließen. Digitale Inkompetenz ist auch Spiegel eines Staatsverständnisses, das sicher nicht gewollt sein kann: Bürgerinnen und Bürger sind Bittsteller, die froh sein dürfen, wenn man sie überhaupt irgendwann hört.

Impfen sollte ein Grundrecht sein

Impfen gegen ein womöglich tödliches Virus sollte aber nach dem Verständnis eines Sozialstaats kein Leckerli sein, das der Staat freundlicherweise an sein Volk verteilt, sondern ein Grundrecht. Eine bevölkerungsweite schnelle Impfung gegen das neue Coronavirus zu gewährleisten gehört zu den wichtigsten Aufgaben des Staates. Der scheitert derzeit an einem Kern seiner Existenzberechtigung.

Wie kann es sein, dass Deutschland und die Europäische Union bei der Impfstoffbestellung so gezaudert und um Preise gefeilscht haben? Es ist zwar nachvollziehbar, dass die Bundesregierung auf einen zentralen Einkauf durch die EU setzen wollte. Die aber nahm die Aufgabe wie ein verschüchterter Kunde in Angriff, zu spät, risikoavers und mit windelweichen Vertragsklauseln. Der Markt regelt vieles, nicht aber die Folgen einer globalen Pandemie.

Allein im ersten Quartal 2021 kostet der Lockdown die deutsche Wirtschaft etwa 50 Milliarden Euro. Selbst wenn man mit dem ursprünglich angenommenen hohen Preis von 54,08 Euro pro Dosis für den Impfstoff von Biontech/Pfizer rechnet, hätte eine frühzeitige Bestellung von einer Doppeldosis für alle Deutschen über 14 Jahre knapp acht Milliarden Euro gekostet – weniger als ein Sechstel der Lockdownkosten allein für Januar bis März.

Nun sollen sich auch noch Abgeordnete über dubiose „Beraterhonorare“ daran bereichert haben, Masken zu beschaffen. Integritätsmangel und persönliche Bereicherung auf der einen, Freiheitsbeschränkung und Wirtschaftskrise auf der anderen Seite – das wirkt wie die Storyline eines grottenschlechten Films, mit dem Wirrwarr um die „Osterruhe“ als vorläufigem Höhepunkt.

Schon in der „Flüchtlingskrise“ hat die Verwaltung versagt

Umgekehrt gibt es viele Aufgaben, die private Unternehmen besser erledigen können. Wer mit dem Ticketansturm auf Fußballweltmeisterschaften und Olympische Spiele umgehen kann, hat beispielsweise Erfahrung, die auch in der Impfterminierung bundesweit hilfreich sein dürfte. Deshalb vergeben das Bundesland Schleswig-Holstein und die Stadt Dortmund Impftermine über das Ticketportal Eventim. Zu oft will der deutsche Staat alles selber machen, statt auf Kompetenzen zu setzen, die im Markt erprobt sind.

Offenbar gelingt es nicht mehr, umsichtige politische Steuerung und Verwaltungspraxis sauber zu verzahnen. Da ist die Pandemie nicht das erste Beispiel. Erinnern wir uns nur an den September 2015. Bundeskanzlerin Angela Merkel traf die gut begründbare Entscheidung, die deutschen Grenzen nicht gegen etwa 3.000 Flüchtende aus Ungarn zu schließen – eine politische Abwägung zugunsten der Humanität.

Das war der Beginn der „Flüchtlingskrise“, in deren Verlauf das Thema Migration zum Kampfthema in der deutschen Bevölkerung wurde. Der Aufstieg der Alternative für Deutschland, terroristische Anschläge und eine wachsende Spaltung Europas waren die Folgen.

Auch damals hat die deutsche Verwaltung weitreichend versagt, ganz wesentlich, weil die technische Infrastruktur fehlte. Das Bundesamt für Migration, heillos überfordert, hortete Papierakten, Flüchtlinge wurden zuhauf mehrfach oder auch gar nicht registriert. Der Tunesier Anis Amri, der 2016 das Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt verübte, hatte in Deutschland unter mindestens 14 verschiedenen Alias-Namen Asyl oder Sozialleistungen beantragt. Die „Flüchtlingskrise“ war auch eine Krise der deutschen Bürokratie: langsam, unflexibel, stecken geblieben im analogen Zeitalter.

Deutsche Effizienz ist nur noch ein Mythos

Wenn Bürokratie, wie der Soziologe Max Weber schrieb, ein „Instrument rationaler Herrschaftsausübung“ ist, dann wird es Zeit, diese Irrationalitäten zu beheben und Politik und Verwaltung für die digitale Moderne zu reformieren. Die hochgelobte deutsche Effizienz ist inzwischen nur mehr die mythische Fortschreibung einer einst herausragenden Vergangenheit.

Den Preis dafür wird die Politik an der Wahlurne zahlen. Einen viel höheren Preis aber zahlen Bürgerinnen und Bürger – mit ihrer Gesundheit, weitreichenden Beschränkungen des sozialen Lebens und Lockdown-Schulden, die noch viele Generationen werden tilgen müssen.

Die Autorin: Miriam Meckel ist deutsche Publizistin und Unternehmerin. Sie ist Mitgründerin und CEO der ada Learning GmbH. Außerdem lehrt sie als Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen.

Mehr: Nach der Maskenaffäre: Debatte um Nebeneinkünfte von Politikern.

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1 Kommentar zu "Gastkommentar: Das deutsche Digital-Desaster"

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  • besser kann man die Situation nicht beschreiben, kein einziges Wort übertrieben, mann kann einfach nur noch heulen

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