Gastkommentar: Europa braucht unsere Stimme!

Europa steht vor einer Wahl. In dieser Woche haben mehr als 400 Millionen Bürger in den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) die Möglichkeit, ein neues Europäisches Parlament zu wählen. In einem Jahr, in dem fast die Hälfte der Weltbevölkerung zur Wahl aufgerufen ist und die Welt mehrfache Krisen durchlebt, findet dieser Urnengang zu einem kritischen Zeitpunkt statt.
In diesem Kontext verlieren wir die grundlegenden Werte und Ziele, auf denen die EU gegründet wurde, leicht aus dem Blick: das gemeinsame Streben nach wirtschaftlicher Stabilität und Prosperität, getragen von wissenschaftlicher Neugier und Innovation als Motor sozialen Fortschritts und damit als nachhaltige Basis für Frieden und Sicherheit.
Extremer Nationalismus und Protektionismus sind weltweit auf dem Vormarsch
Zu einer Zeit großer geopolitischer Spannungen werden unsere gemeinsamen Werte und Ziele zu einem immer wertvolleren Gut. Sie sind jedoch zunehmend in Gefahr. Extremer Nationalismus und Protektionismus auf internationaler und nationaler Ebene sind auf dem Vormarsch. Und unter diesem wachsenden Druck verliert die EU gerade dann an Wettbewerbsfähigkeit und Widerstandskraft, wenn sie diese am dringendsten benötigt.
Als Unternehmer, Vater und leidenschaftlicher Europäer erfüllt mich dies mit großer Sorge. Die gesellschaftliche Vielfalt und der Prozess der europäischen Integration – also die Entscheidung, einige der größten Herausforderungen gemeinsam und nicht getrennt anzugehen – haben die EU zu einem einzigartigen Modell gemacht. Vielfalt und Integration sind Voraussetzung für sozialen Zusammenhalt, Wohlstand und nachhaltige Entwicklung.
Zu den großen Herausforderungen der EU gehört, die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und gleichzeitig Europas Wirtschaft so zu gestalten, dass sie im Einklang mit dem digitalen und grünen Wandel steht. Die Aufgabe ist immens – zumal in den vergangenen Jahren die Industrie in der EU durch hohe Inflation, Arbeitskräftemangel, Unterbrechungen der Lieferkette, steigende Zinssätze und steigende Energiepreise stark gefordert wurde.
Europa hat als einstige „Apotheke der Welt“ seine Führungsposition eingebüßt
Die Europäer haben sich in den Krisen der vergangenen Jahre zwar immer wieder bewährt. Doch ich bin der festen Überzeugung, dass Europa in einigen Schlüsselbereichen, die seine künftige Rolle in der Welt bestimmen werden, einen strategischeren Ansatz als bisher verfolgen kann und muss. Zu diesen Bereichen gehören neben Technologie, Digitalisierung und Energiewirtschaft auch die Biowissenschaften und die pharmazeutische Forschung und Entwicklung.
Einst als „Apotheke der Welt“ bezeichnet, hat Europa seine Führungsposition nach und nach eingebüßt, was erhebliche Auswirkungen hat. Vor 25 Jahren entwickelte Europa die Hälfte aller neuen Medikamente weltweit. Heute ist es weniger als ein Fünftel. Der europäische Anteil an weltweiten Studien, besonders bei innovativen Behandlungsformen wie personalisierten Zell-, Gen- und Gewebetherapien, ist rückläufig. Länder wie China und die USA haben die EU überholt, weil sie attraktivere Investitionsbedingungen und eine schnellere Zulassung gewährleisten, sodass die Patienten früher von wissenschaftlichen Fortschritten und innovativen Therapien profitieren können.
Europa kann seine Führungsposition in diesem Bereich zurückgewinnen, indem es zum Beispiel zukunftssichere, innovationsfreundliche Bedingungen schafft, die klinische Forschung wirksamer fördert und geistiges Eigentum als Motor für Innovation begreift.
Im Einklang mit dem EU-Ziel einer „offenen strategischen Autonomie“ und den jüngsten Aufrufen der EU-Staats- und Regierungschefs, die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und strategische Abhängigkeiten zu verringern, ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um Europas globale Führungsposition zurückzugewinnen.
Die im Februar 2024 verabschiedete „Antwerp Declaration“ für einen europäischen Industriepakt, der den Green Deal, mit dem die Europäische Kommission ein von der Ressourcennutzung entkoppeltes Wachstum anstrebt, ergänzt, ist ein positiver Schritt nach vorne. Ich bin zuversichtlich, dass weitere Initiativen folgen werden, wenn die künftige EU-Führung ihre strategische Agenda für die Jahre 2024 bis 2029 festlegt.
Gemeinsam können wir Europa besser und stärker machen. Europa ist und bleibt die richtige Wahl. Unsere Stimme kann dazu beitragen, ein besseres und stärkeres Europa zu schaffen. Nutzen Sie Ihre Stimme nicht gegen Europa – sondern für Europa!






Der Autor:
Hubertus von Baumbach ist Vorsitzender der Unternehmensleitung des Pharmaunternehmens Boehringer Ingelheim.
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