Gastkommentar: Europa steht in der Coronakrise vor seiner historischen Bewährungsprobe

Die Europäische Union steht vor ihrer größten Herausforderung überhaupt.
Die Coronakrise bedeutet für Europa dramatische Verluste: Wir verlieren tausende Menschenleben an eine immer wieder tödliche Viruskrankheit, wir verlieren Wohlstand und Arbeitsplätze an ihre Folgen.
Aber der vielleicht größte Verlust steht uns noch bevor: Der Verlust an Vertrauen in die Sinnhaftigkeit und Glaubwürdigkeit der Europäischen Union. Europa steht vor seiner größten Bewährungsprobe seit seiner Nachkriegsgründung, denn es geht um den praktischen Zusammenhalt auf unserem Kontinent.
Wer soll noch an die viel zitierte „Werteunion“ Europas glauben, wenn sich dieses Europa in der größten Krise seit ihrem Bestehen im wahrsten Sinne des Wortes als wert-los herausstellt? Wie hohl mögen in den Ohren der betroffenen Regionen Europas wohl die Sonntagsreden über „europäische Solidarität“ klingen, wenn zu Beginn der Infektionskrise, als in Italien schon die ersten Anzeichen für massenhaftes Sterben unübersehbar waren, europäischen Mitgliedstaaten – auch Deutschland – zuerst ein Exportverbot für medizinische Hilfsmittel nach Italien verhängen statt Soforthilfe zu leisten?
Und was bleibt übrig von der europäischen Idee, wenn im Alltag der Krise sich scheinbar nur die einzelnen Nationalstaaten mittels geschlossener Grenzen und nationaler Hilfsprogramme als handlungsfähig erweisen – oder hilflos alleine zurückgelassen werden, wenn sie mit nationalen Mitteln allein im Kampf gegen die Pandemie unterliegen?
Die Europäische Union droht bei dieser größten Bewährungsprobe seit ihrer Entstehung dramatisch zu versagen. Stattdessen erleben wir, dass Mächte wie Russland und China öffentlichkeitswirksam Hilfe liefern, um genau dieses Defizit Europas zu betonen. Dass hier humanitäre und politische Ziele mindestens gleichzeitig verfolgt werden, liegt auf der Hand.

Der Autor war Umwelt-, Wirtschafts- und Außenminister sowie Vizekanzler.

Der Autor war von 1998 bis 2005 deutscher Außenminister und Vizekanzler.
Es stimmt: Inzwischen ist das Exportverbot für Hilfsmittel wieder aufgehoben. Deutschland gehört zu den Ländern, die schwer erkrankten Patienten beispielsweis aus Italien, Frankreich und Spanien Krankenhausbetten und Intensivpflege anbieten, weil unsere Kapazitäten noch dafür ausreichen. Aber diese ebenso wichtigen wie guten Hilfen sind angesichts der Wucht der Krise, angesichts von tausenden Toten, massenhafter Arbeitslosigkeit und schweren sozialen Verwerfungen nur wenig mehr als der berühmte „Tropfen auf den heißen Stein“.
Länder wie Italien und Spanien werden es Europa und vor allem uns Deutschen 100 Jahre lang nicht vergessen, wenn wir sie bei der Bewältigung dieser drohenden und bereits einsetzenden Entwicklung in ihren Ländern jetzt im Stich lassen. Und genau das tun wir gerade.
Europa droht zum Nullsummenspiel zu werden, bei dem Nationalstaaten glauben, dass immer einer verlieren muss, wenn ein anderer etwas bekommt. Donald Trump hat dies zum Credo seiner internationalen Politik gemacht. Nun hat dieses „my-nation-first-Virus“ offenbar auch Europa infiziert.
Schon die in Deutschland seit Jahrzehnten immer wieder aufgestellte Behauptung, Deutschland sei ein „Nettozahler“ hat dieses antieuropäische Ressentiment immer wieder von Neuem belegt. Natürlich zahlt Deutschland mehr Steuergelder an Brüssel, als es an Fördergeldern zurückerhält – nur ist das nicht einmal die Hälfte der Rechnung.
Man muss eigentlich nur die Grundrechenarten kennen, um zu wissen, dass ein Land wie Deutschland, das weit mehr an Gütern und Dienstleistungen nach Europa exportiert (oder: ausführt) als es von dort importiert (oder: einführt), offenbar auch mehr Geld ins Land bekommt als es in anderen Länder ausgibt. Anders wird man kein Exporteuropa- und Weltmeister.
Deutschland ist der größte Gewinner Europas
Die Wahrheit ist: Unser Land ist der größte wirtschaftliche und finanzielle Gewinner Europas. Sogar an der Finanzkrise Griechenlands haben wir Geld verdient. Das alles wissen unsere Nachbar- und Mitgliedsstaaten in der Europäischen Union. Und deshalb schauen Sie jetzt – zu Recht – darauf, was Deutschland tut, um einen Teil seines durch Europa erworbenen Wohlstands nun für dieses Europa einzusetzen.
Europa ist nicht nur als Friedensprojekt, sondern auch als wirtschaftliches, soziales und ökologisches Projekt eben kein „Nullsummen-Spiel“, sondern das Gegenteil: Es schafft im wahrsten Sinn des Wortes einen „Mehrwert“ für alle. Gerade für Deutschland und durchaus auch im finanziellen und wirtschaftlichen Sinn. Die Gründer der Europäischen Union wussten das und was Europa jetzt braucht, ist der Mut dieser Gründergeneration.
Denn natürlich ist es nicht überall populär, die im eigenen Land hart erarbeitete wirtschaftliche Leistung mit anderen zu teilen. Vor allem nicht, wenn man mitten in einer Krise ist, deren Ausgang weder die Politik noch die Bevölkerung heute schon sicher beurteilen können. Die bange Frage „Brauchen wir unsere medizinischen und wirtschaftlichen Ressourcen nicht für uns selbst?“, ist nicht unmoralisch oder verwerflich.
Die Antwort darauf lautet allerdings, dass kein Land – auch nicht Deutschland – allein und auf sich gestellt aus dieser Krise wieder heil herauskommen wird. Denn unser ökonomischer und sozialer Zusammenbruch unserer Nachbarn wird auch das scheinbar sichere Deutschland erreichen. Wohlstand und Sicherheit gibt es in Europa nur für alle oder für niemanden. Das war der Grund, warum die Gründergeneration sich an dieses damals gewagte Projekt der europäischen Einigung gewagt hat, obwohl es gewiss nicht populär gewesen war, kurz nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges ausgerechnet uns Deutsche an den Tisch eines geeinten Europas zu bitten.
Kein Land hat von dieser Solidarität so sehr profitiert wie Deutschland – denn mit der Begründung der Europäischen Integration reichten uns die Länder als Freunde und Partner die Hand, über deren Straßen noch wenige Jahre zuvor die Stiefel der deutschen Besatzer marschiert waren. Die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik wäre ohne Europas Solidarität nicht zu erzählen.
Niemand trägt deshalb soviel Europa in sich und niemand hat soviel Verantwortung für Europa wie unser Land. Deshalb muss es jetzt die Bereitschaft zur Führung in Europa zeigen – am besten gemeinsam mit Frankreich. Europa braucht jetzt zweierlei: gemeinsame Hilfen in der Krise und ein gemeinsames Wiederaufbauprogramm nach der Krise.
So wie es 1948 auch zwei Projekte gab, die aufgrund ihrer historischen Größe bis heute im kollektiven Gedächtnis unsere Landes geblieben sind: die Berliner Luftbrücke, um die in Not befindlichen Bürgerinnen und Bürger West-Berlins zu versorgen und der Marshallplan zum Wiederaufbau Europas, der heute immerhin einen Wert von knapp 150 Milliarden Euro hätte und von dem die deutsche Staatsbank KfW (früher: Kreditanstalt für Wiederaufbau) abstammt. Noch heute verwaltet die KfW zwölf Milliarden Euro als Sondervermögen aus dem damaligen „Marshall-Plan“. Noch heute – 70 Jahre später – finanziert die KfW die gerade erst beschlossenen Hilfsmaßnahmen für die deutschen Unternehmen in der Coronakrise aus diesem Vermögen.
Dreistufen-Programm für Italien und Spanien
Die am härtesten von der Corona-Pandemie getroffenen Länder wie Italien und Spanien brauchen ein sich überlappendes Dreistufen-Programm: medizinisch-humanitäre Soforthilfe; mittelfristige, langlaufende europäische Kredithilfen, die nicht auf die Maastricht-Kriterien angerechnet werden, zur Stabilisierung der inländischen Realwirtschaft; langfristiges Innovationsförderungs-Programm zur wirtschaftlichen und sozialen Zukunftssicherung.
Deutschland wäre gut beraten, sich an einem solchen Hilfsprogramm auf europäischer Ebene sofort zu beteiligen, statt den ideologischen Streit zwischen Nord- und Südeuropa über Euro-Bonds oder Corona-Bonds fortzusetzen. Denn klar ist: Weder Italien noch Spanien sind in der Lage, die notwendigen Finanzmittel zum Wiederaufbau ihrer Länder allein als neue Staatsschulden aufzunehmen. Die Last der Zinsen und vermutlich auch der Tilgung muss ihnen Europa abnehmen.
Das Signal, dass alle europäischen Mitgliedsstaaten dazu bereit sind, muss schnell kommen. Sonst werden rechtsextreme Kräfte in beiden Ländern erneut versuchen, ihre nationalistische Suppe gegen die EU aufzuwärmen.. Es liegt im europäischen wie aber auch im deutschen Interesse, dass diese von zweifelsfrei demokratischen Kräften getragenen Regierungen in Italien und Spanien wirtschaftlich, sozial und damit auch politisch stabil und europäisch gesinnt bleiben!
Natürlich wird Europa schon auf mittlere Sicht und ganz unabhängig von der aktuellen Krise, die gemeinsame Währung auch gemeinschaftlich verbürgen müssen. Nur dann wird der Euro eine echte internationale Reservewährung und eine Alternative zum Dollar. Tun wir das nicht, wird Europa seine wirtschaftliche Souveränität nicht erreichen, sondern im Zweifel immer von der Politik des Dollar-Raums abhängen, wie wir es in der Auseinandersetzung um den Atomvertrag mit dem Iran bitter erleben mussten.
Da diese Weiterentwicklung aber nicht heute und wohl auch nicht morgen erfolgen wird, darf es mitten in der Krise jetzt keinen lähmenden Prinzipienstreit geben. Der klarste und deutlichste Weg wäre es, den Haushalt der Europäischen Union um einen Nothilfefonds zu erweitern, der von allen Mitgliedsstaaten gespeist wird und über ausreichende finanzielle Mittel verfügen muss, um große Krisen in Europa bewältigen zu können.
Dazu gehört es übrigens auch, dringend Antworten darauf zu finden, was Europa tun will, wenn sich in den Flüchtlingslagern in Griechenland oder auch in der Türkei oder Syrien die Corona-Infektion massenhaft ausbreitet. Alle internationalen Hilfsorganisationen warnen vor der menschlichen Tragödie, die dort entstehen wird und für die wir – ob es uns passt oder nicht – auch Verantwortung tragen.
Die Coronakrise braucht eine starke europäische Antwort
Dort, wo ganz Europa bedroht ist, muss auch die ganze Europäische Union antworten und darf diese Antwort nicht auf Teilgruppen wie die Euro-Gruppe delegieren. Oder wie es George Marshall bei seiner berühmten Bostoner Rede zur Begründung des Marshall-Plans sagte: „(…) die wirtschaftliche Wiederaufrichtung Europas ist Sache der Europäer selbst. Ich glaube, die Initiative muss von Europa ausgehen. Das Programm sollte ein gemeinschaftliches sein, vereinbart durch einige, wenn nicht alle europäischen Nationen.“
Der Streit jedenfalls, ob die Europäische Union dies innerhalb der gemeinsamen Währungsgruppe des Euro mit gemeinsamen Anleihen (Bonds) tut sollte, ob bestehende Finanzierungsmöglichkeiten wie die 410 Milliarden Euro des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) dafür genutzt werden können oder ein neues Instrument entstehen muss, weil der ESM für ganz andere Ziele geschaffen wurde und deshalb ungeeignet für die heutige Situation ist, sollte rasch beendet und entschieden werden.





Die Coronakrise braucht eine starke und vernehmlich europäische Antwort von grenzüberschreitender und praktischer Solidarität: Sie bedeutet eine Herausforderung, die nationale Grenzen ignoriert und die Handlungsfähigkeit einzelner Staaten teilweise drastisch überfordert. Wenn wir die großen strategischen Herausforderungen des neuen Jahrzehnts – von der Digitalisierung, über die Migration bis zur Sicherheitspolitik – bestehen wollen, werden wir Europäer das nur gemeinsam schaffen können.
Krisen können Chancen für Europa sein – so wie die Balkan-Kriege der 1990er-Jahre, die zum Beginn einer europäischen Außenpolitik führten. Das Coronavirus hat das Potential zum Beschleuniger von zwei entgegen gesetzten Prozessen zu werden: Entweder es vertieft die ohnehin in Europa existierenden Risse so massiv, dass die Union daran auseinander brechen könnte. Oder es gelingt der Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten im Kampf gegen das Virus uns seine Folgen zu einigen. Es kommt jetzt sehr stark auf uns Deutsche an, welchen Weg Europa einschlagen wird. Viel Zeit dafür haben wir nicht mehr!
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