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Gastkommentar – ExpertenratKontrolliertes Trinken: Der sanfte Weg aus dem Alkoholproblem

Ein Glas Wein zum Runterkommen gehört bei vielen Führungskräften zum Alltag. Wenn Aufhören noch keine Option ist, kann eine alternative Methode helfen.Curt Diehm 15.02.2022 - 09:00 Uhr Artikel anhören

Trinken gehört für viele Manager zu ihrem Alltag, der Grat zur Abhängigkeit ist mitunter schmal.

Foto: dpa

Vielleicht gehören ja auch Sie zu jenem Personenkreis, auf dessen Liste der guten Vorsätze steht: weniger Alkohol trinken. Unternehmer und Führungskräfte sind Teil einer Berufsgruppe, die im Schnitt vermutlich mehr Alkohol trinkt als der Durchschnittbürger.

Zumindest ist das meine Beobachtung. Belastbare Zahlen, wie sich der Alkoholkonsum bei Managerinnen und Managern konkret darstellt, gibt es allerdings nach meinem Wissensstand nicht.

Das Glas, manchmal auch die Flasche Wein am Abend zum Runterkommen steht bei sehr vielen Leistungsträgern auf dem Programm, und dies oft nicht nur ein-, zweimal pro Woche. Hinzu kommen berufliche, gesellige und gesellschaftliche Events, die in der Regel auch nicht „trocken“ ablaufen.

In unserem Land trinkt statistisch jeder Fünfte aus medizinischer Sicht zu viel. Jeder Zwanzigste ist alkoholabhängig. Alkohol ist ein Nervengift, krebserregend und schädigt viele Organe.

Der Grat zwischen purem Genuss und einem Alkoholproblem ist schmal, der Übergang fließend und auch abhängig vom Gesundheitszustand und der Psyche des Einzelnen.

Wie reduziert man den Alkoholkonsum?

Gute Vorsätze allein reichen in der Regel nicht aus, um das Problem in den Griff zu bekommen, sofern man eindeutig zu viel Alkohol konsumiert. Die Schlüsselfrage lautet: Wie entwöhnt sich ein Mensch, der sich bewusst darüber ist, dass ihm der Alkohol schadet?

Zu dieser Frage gibt es durchaus auch erfreuliche Erkenntnisse. Zumeist liegt die Latte für eine erfolgreiche Entwöhnung sehr hoch. Die herkömmliche Therapie lautete: totale Abstinenz.

Die komplette Enthaltsamkeit galt und gilt vielen Therapeuten als einzig erfolgversprechende Methode. Jeder Tropfen Alkohol ist in der Phase der Entwöhnung und auch später verboten. Die Alkoholkranken sollen gesund werden mit Gottes Hilfe, einer quasi christlich verordneten fundamentalen Enthaltsamkeit. Wer das nicht schafft, wird als Rückfälliger, sozusagen als „Sünder“ angesehen.

Ein wesentliches Problem bei diesem Ansatz: Nur etwa fünf bis acht Prozent der erwiesenermaßen Alkoholkranken nehmen professionelle Hilfe in Anspruch. Und nur wenige von ihnen halten die üblicherweise verordnete Abstinenztherapie durch.

Viele wollen oder können nicht ein Leben lang auf Bier, Wein, Schnaps oder Whisky verzichten. Die Folge ist, dass Alkoholkranken nur ganz selten die Umkehr gelingt. Die Zahlen sind entsprechend ernüchternd: 70 Prozent aller diagnostizierten Alkoholabhängigen erleiden im ersten Jahr nach einer Therapie einen Rückfall, nach dem zweiten Jahr trinken sogar 90 Prozent wieder.

Das stellt das herkömmliche Therapiekonzept infrage.

Kontrolliertes Trinken als Alternative

Insofern ist eine alternative Idee attraktiv. Experten propagieren in der Entwöhnung das sogenannte kontrollierte Trinken (kT). Für mich ist dies ein Fortschritt. Viele Psychiater und psychosomatischen Ärzte gehen heute diesen Weg. Das Ziel ist niederschwelliger. Es geht lediglich um eine Reduktion des Alkoholkonsums.

Die Therapeuten fordern Trinktagebücher, erwarten alkoholfreie Tage und das Trinken von klar festgelegten Mengen. Nie soll Alkohol dazu dienen, Stress abzubauen. Das höchste Ziel ist demnach die Kontrolle über den Alkoholkonsum und ein verantwortungsvoller Umgang mit dieser Gesellschaftsdroge.

Die Alkoholgefährdeten sollen lernen, ganz bewusst und achtsam mit Alkohol umzugehen. In kleinen Schritten wird gelernt, den Alkoholkonsum zunächst für kurze Zeiträume zu planen.

Entscheidend dabei ist, dass die Mengen realistisch sind. Ziel ist also ein disziplinierter, geplanter und limitierter Alkoholkonsum. Selbstbestimmung ersetzt das nur schwer durchhaltbare Verbot. Natürlich kann kT auch ein Zwischenschritt zum völligen Alkoholverzicht sein.

Das Konzept des kontrollierten Trinkens ist nicht neu, es wurde in den Sechzigerjahren in den USA und in Australien entwickelt. Einer der weitsichtigen Pioniere in Europa war Dr. Gottfried Sondheimer, Chefarzt der Forel-Klinik in Ellikon, der größten Fachklinik für die Behandlung von Alkoholkonsum und Medikamentenabhängigkeit in der Schweiz.

Er entwickelte das sogenannte ABC-System. Harte Alkoholiker mit bereits bestehenden Hirn- und Leberschäden behandelt er konventionell mit totaler Abstinenz und ordnet sie der Gruppe A zu. In der Gruppe B wurden abhängige Alkoholkranke ein Jahr unter „begrenzter Abstinenz“ behandelt.

Die Gruppe C führt der Therapeut ambulant und erlaubt kontrolliertes Trinken schon bei Therapiebeginn. Sicherlich gehört die große Mehrheit jener Managerinnen und Manager, die zu viel Alkohol trinken, der Gruppe C an.

Umstrittene Thesen

Anfänglich liefen Suchtforscher Sturm gegen das Konzept des kontrollierten Trinkens. Selbsthilfeverbände verabschiedeten Resolutionen, und Behörden untersagten Therapeuten sogar die Verbreitung ihrer Thesen.

Obwohl das Thema unter Suchtexperten weiterhin heiß diskutiert wird, koexistieren beide Ansätze heute in der Praxis nebeneinander. Auch, weil Studien zu kT zeigen, dass etwa zwei Drittel der Studienteilnehmer es schaffen, ihren Alkoholkonsum drastisch zu reduzieren.

Fünfzig Prozent der Studienteilnehmer entscheiden sich im Anschluss sogar dazu, nie wieder Alkohol zu trinken. Auch bei Langzeitbeobachtungen kann kT zum Erfolg führen. Das haben Studien aus Schweden und den USA gezeigt.

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Die Therapie des kontrollierten Trinkens ist in Deutschland noch nicht so etabliert wie in anderen Ländern, und die Kosten werden auch noch nicht von allen Krankenkassen übernommen. In der Schweiz, Frankreich, den Niederlanden und England ist diese Therapieform deutlich bekannter. In England und in den Niederlanden ist Konsumreduktion bereits Standard. Abhängige, die zu einem Entzug stationär aufgenommen werden, haben die freie Entscheidung, ob sie gänzlich auf Alkohol verzichten oder die Alkoholmenge nur einschränken wollen.

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Curt Diehm ist ärztlicher Direktor der auf Führungskräfte spezialisierten Max-Grundig-Klinik. Der Internist lehrt zudem als außerplanmäßiger Professor an der Universität Heidelberg und ist Autor von über 200 wissenschaftlichen Originalpublikationen sowie vielen Sachbüchern. Foto: Handelsblatt


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