Gastkommentar: Gründe für den Mangel an Azubis in deutschen Unternehmen
Wenn die Unternehmen in Deutschland in diesen Tagen ihre neuen Auszubildenden begrüßen, dürften ihre Personalchefs entweder erleichtert aufatmen oder verzweifelt sein. Erleichtert, wenn sie es geschafft haben, alle ihre Ausbildungsplätze adäquat zu besetzen – und die Azubis auch tatsächlich am ersten Tag erschienen sind.
Verzweifelt, wenn es ihnen trotz großer Anstrengungen nicht gelungen ist, ausreichend qualifizierte und motivierte Auszubildende zu finden. Selbst für große Industriebetriebe wird der Kampf um Berufseinsteiger jedes Jahres schwieriger, denn Zahl und Qualität der Bewerbungen nehmen kontinuierlich ab.
Dass es sich dabei nicht um gefühlte Wahrheiten von anekdotischer Evidenz handelt, zeigen exemplarisch zwei Studien aus den vergangenen Wochen. „Es mangelt Bewerbern an Basiskenntnissen und Kompetenzen, die praktisch für jeden Ausbildungsberuf nötig sind: Zuverlässigkeit, Lernbereitschaft, Einsatzwille und Lesen, Schreiben, Rechnen“, fasst Achim Dercks, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), die alarmierenden Ergebnisse der diesjährigen Ausbildungsumfrage unter 15.000 Mitgliedsunternehmen zusammen.
Kleinen und mittleren Unternehmen fehlt es oft nicht nur an geeigneten Kandidaten – sie erhalten häufig überhaupt keine Bewerbungen für ihre Ausbildungsplätze. Einen Grund, warum aktuell mehr als 180.000 Ausbildungsplätze unbesetzt sind, nennt die Jugendbefragung „Ausbildungsperspektiven 2025“ der Bertelsmann-Stiftung.
Sechs Millionen Beschäftigte ohne Berufsausbildung
Gerade Schulabgänger mit niedrigem Bildungsabschluss entscheiden sich häufig gegen eine qualifizierte Berufsausbildung. Jeder Fünfte von ihnen möchte stattdessen lieber gleich als Ungelernter Geld verdienen – und sich damit einreihen in die drei Millionen jungen Menschen ohne formalen Berufsabschluss. Nach Angaben des DGB besitzen insgesamt sogar rund sechs Millionen Beschäftigte in Deutschland keine abgeschlossene Berufsausbildung.
Das alles sind Befunde, die uns als Gesellschaft beunruhigen müssen. Denn es sind nicht nur hohe Energiepreise und Arbeitskosten, Bürokratie, Handelskonflikte und geopolitische Risiken, die den Wirtschaftsstandort Deutschland gefährden, sondern auch der zunehmende Mangel an qualifizierten Nachwuchskräften.
Dabei gilt das deutsche System der dualen Berufsausbildung bislang als weltweit einzigartiges Erfolgsmodell und stabiler Garant des Fachkräftenachwuchses in allen Bereichen der Wirtschaft. Unzählige erfolgreiche Karrieren und Existenzgründungen haben auf dem soliden Fundament einer Ausbildung begonnen – auch meine eigene.
Wie können wir gemeinsam gegensteuern und die duale Berufsausbildung in Deutschland stärken? Die Länder müssen endlich ihre schul- und bildungspolitischen Hausaufgaben machen. Dazu gehört, die Ganztagsförderung auszubauen, die Berufskollegs wieder auf ihre Kernaufgaben zu fokussieren und zusätzliche Lehrkräfte zu gewinnen.
Vor allem aber müssen sie die Qualität der schulischen Bildung erhöhen, damit Jugendliche am Ende ihrer Schulzeit die Basiskompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen sicher beherrschen. Schulabgänger brauchen außerdem eine bessere Berufsorientierung.
Schule muss besser auf das Berufsleben vorbereiten
Wir in der chemisch-pharmazeutischen Industrie – aber längst nicht nur dort – wünschen uns zudem, dass die für viele Berufe so wichtigen MINT-Fächer gestärkt werden. Allein in unserer Branche entfallen über 70 Prozent der aktuell rund 25.000 Ausbildungsverhältnisse auf den MINT-Bereich.
Wir als Arbeitgeber werben selbst intensiv für diese Berufe: von Schülerlaboren über den jährlichen Girls’ und Boys’ Day bis hin zu unserer Ausbildungskampagne „Elementare Vielfalt“. Mit unserem Ausbildungsradar empfehlen wir überzeugende Bewerber innerhalb unserer Branche weiter. Dennoch werden auch in der Chemiebranche dieses Jahr wieder mehr als zehn Prozent der Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben.
Keine Frage: Schule muss besser auf das Berufsleben vorbereiten, und die Betriebe müssen eine Ausbildung so attraktiv wie möglich machen. Doch wenn wir wieder mehr junge Menschen für eine duale Berufsausbildung begeistern wollen, müssen wir auch selbstbewusster über ihre Vorteile gegenüber einem Studium, die oft großen Entwicklungsmöglichkeiten und ihren Wert für den Einzelnen wie für die Gesellschaft sprechen.
„Ausbildung ist kein ,Plan B‘. Sie ist gleichwertig, wertvoll und für viele, die diese mit Leidenschaft beginnen, ein sicherer Weg in eine erfüllende Zukunft“, schrieb kürzlich die Textilmanagerin und frühere Vorstandsvorsitzende von Gerry Weber, Angelika Schindler-Obenhaus.
Diesem Plädoyer schließe ich mich im Namen aller Ausbildungsbetriebe in Deutschland aus voller Überzeugung an!
Die Autorin: Heike Prinz ist Personalvorständin der Bayer AG, Vorsitzende des Arbeitgeberverbands Chemie Rheinland und Vorstandsmitglied des Bundesarbeitgeberverbands Chemie (BAVC).
Erstpublikation: 01.09.2025, 04:05 Uhr.